Ist Putin der Richtige für Russland?
JA

ENTSCHEIDUNG Russland wählt, Wladimir Putin will erneut Präsident werden. Proteste häufen sich, das Land steht vor der Spaltung

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Diesmal zum Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Japan: Bedeutet Fukushima das Ende der Atomkraft?

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Gabriele Krone-Schmalz, 62, ist ehemaligeMoskau-Korrespondentin der ARD

Aber sicher. Und wenn die westliche Welt Putin in seiner ersten Amtszeit als hochmotivierten Realpolitiker ernstgenommen hätte, statt in ihm nur den KGB-Mann zu sehen, dem man nichts glauben kann, würden wir heute wohl nicht über eine dritte Amtszeit reden. Die Zusammenarbeit wird jedenfalls nicht leichter werden. In erster Linie aber haben die Bürger Russlands zu entscheiden, ob Putin der Richtige für sie ist, und da sind die Verhältnisse klar. Ob „wir im Westen“ das gut finden oder nicht. Auch ohne Wahlfälschungen wird Putin die nötige Mehrheit bekommen. Diese Mehrheit zu ignorieren oder gleich zu diffamieren – das ist eine Haltung, die ich als Bürger und Journalist ablehne. Und deshalb ist Putin der Richtige für das heutige Russland.

Alexander Rahr, 53, Russlandexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik

Wer heute „Putin raus“ schreit, sollte sich an die Worte Michail Chodorkowskis erinnern, der meinte, Wladimir Putin sei liberaler als achtzig Prozent der russischen Bevölkerung. Bei absolut freien Wahlen würde die Mehrheit der Russen einen Kommunisten oder Nationalisten wählen, die dem Land eine funktionierende staatliche Ordnungsmacht versprechen. Für viele im Westen ist Putin ebenfalls ein Garant für Stabilität. Niemand wünscht sich ein zerfallendes, um Kredite bettelndes Russland mit vagabundierenden Atomwaffen. Putin fördert die Privatwirtschaft, öffnet Investitionen die Türen und betreibt regen Handel mit dem Westen. Das Sozialsystem funktioniert, die Petro-Dollars werden mit der Bevölkerung geteilt, die Mittelschicht ist dank Putins Reformen stark. Irgendwann wird sie Russland nach Europa führen. Der Westen sollte aufhören, Russland zu einer Demokratie zu erziehen. Stattdessen sollte er auf Kooperationsangebote Moskaus – vor allem im Energiebereich – eingehen.

Heiko Jörges, 43, Rechtsanwalt, hat die sonntaz-Frage auf taz.de kommentiert

Meiner Meinung nach ist er zurzeit der Richtige! Nicht weil ich alles, was in Russland geschieht, gutheiße, sondern weil es gefährlich ist, wenn dieses Land eine schwache Führungsspitze hat! Russland ist Atommacht, Energielieferant Europas, und ein Durcheinander wie in den Neunzigern würde nicht nur der Kriminalität in dem Riesenland weiteren Auftrieb geben, sondern würde auch dazu führen, dass irgendwelche unberechenbaren Gestalten den Finger am roten Knopf haben. Und den OberlehrerInnen aus den Diskussionszirkeln in Prenzlauer Berg, Kreuzberg und Freiburg sei gesagt, dass Länder wie Russland und China immer ihren eigenen Weg gehen werden, dass die Entwicklung von Menschenrechtsfragen dort auch Zeit braucht und mit Sicherheit eigene Wegen gehen wird, die deshalb nicht schlechter sind als bei uns. Russland und China lassen sich nicht am totalitaristischen Sendungsbewusstsein des Bio-Biedermeiers in Deutschlands städtischen Wohlfühlquartieren messen. Alles braucht nun mal seine Zeit.

NEIN

Olga Tsepilova, 54 Jahre, ist Soziologin und Mitglied der Grünen Fraktion Russland

Putin ist eine schlechte Wahl, in zwölf Jahren an der Macht ist er faktisch zu einem Diktator geworden, Russland in diesen Jahren unbeirrt den Weg hin zum Autoritarismus gegangen. Charakteristisch dafür sind: die Minimalisierung der Öffentlichkeit, eine dominierende Exekutivmacht, Intransparenz, Kontrolle über die Massenmedien, Unterdrückung der Parteienlandschaft, Manipulation. Das Potenzial für sozialpolitische Konflikte ist erheblich gewachsen, die Wirtschaft beruht auf einem rückständigen Rohstoffkapitalismus, Kriminelle machen sich breit, das Ausmaß an Korruption ist hoch, der Status der Menschenrechte gering. So sieht Russland heute aus, daran kann Putin nicht unschuldig sein. Weitere zwölf Jahre mit ihm an der Spitze wird Russland nicht aushalten. Doch es geht nicht allein um Putin. Eine Veränderung des gesamten politischen Systems ist unerlässlich.

Cornelius Ochmann, 48, ist Osteuropa-Experte der Bertelsmann-Stiftung

Ein demokratisches Russland benötigt ein neues Gesicht. Putin steht für Stabilität, Stärke und Korruption. Seine Rolle als Stabilisator Russlands ist nicht zu unterschätzen, aber seine Rückkehr ins Präsidialamt hat ihn beim russischen Volk diskreditiert. Gegen Putins Machtstrukturen protestieren Nationalisten, Kommunisten und Vertreter der Zivilgesellschaft. In den Großstädten geht die junge Mittelschicht auf die Straßen, im Rest des Landes kämpft die Mehrheit der Bevölkerung ums Überleben. Aber auch unter den Anhängern Putins wächst die Unzufriedenheit. Putin verspricht im Wahlkampf alles Mögliche: Staatsbedienstete sollen besser bezahlt werden, Renten steigen. Der Staat kann diese Geschenke jedoch nicht mehr finanzieren. Je stärker Putin seine Stabilitätspolitik preist, desto größer wird die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Menschen und der Realität. Hier liegt der Sprengsatz für die künftige Entwicklung in Russland.

Marieluise Beck, 59, Sprecherin der Grünen für Osteuropapolitik im BundestagDas „System Putin“ hat die Entwicklung des Landes hin zu einem demokratischen Gemeinwesen verhindert. Es ist ihm bisher nicht gelungen, die Wirtschaft auf die Beine zu bringen, die Korruption zu bekämpfen und ein tragfähiges Sozialsystem zu schaffen. Putin hat keine Lösung, das hat der gut ausgebildete Teil der Bevölkerung, mit dem allein sich die Modernisierung des Landes machen lässt, erkannt. Für die kommende Wahl haben Putin und seine Genossen noch einmal vorgesorgt: Unabhängige Kandidaten wurden von der Wahl ausgeschlossen, kritischen Medien wird die Luft abgeschnürt, die Propagandamaschine läuft. Putin beschwört ein „starkes Russland“. Er kündigt Rüstungsausgaben an, die beinahe der Größe des Eurorettungsschirms entsprechen. Aber: Die Gesellschaft ist aufgewacht und artikuliert ihren Drang nach Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. Die Frage ist, wie lange Putin politisch wird überleben können.