Die gefesselte SPD

WAHLEN Gerechtigkeit steht hoch im Kurs. Aber die Sozialdemokraten profitieren nicht davon, weil ihre Wählerschaft sozial gespalten ist

■ arbeitet im Parlamentsbüro der taz und beschäftigt sich dort vor allem mit Linkspartei und SPD. Er ist bei Wetten zur Fußball-WM und -EM meist erfolgreicher als bei Wetten auf den Ausgang von Bundestagswahlen.

Die Vermögen entwickeln sich in Deutschland seit Jahren in die gleiche Richtung: Wer hat, bekommt noch mehr, wer nichts hat, bekommt nichts. Die Reallöhne sind in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt gesunken, die Einkommen aus Vermögen hingegen wachsen, allen Finanzkrisen zum Trotz. Das viel gepriesene deutsche „Jobwunder“ hat indes vor allem Millionen mies bezahlte, prekäre Arbeitsstellen geschaffen. Im unteren Fünftel macht man sich kaum noch Hoffnungen auf sozialen Aufstieg. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden.

Dieser Blick auf die deutschen Zustände ist aber keine Totale: Er fokussiert entscheidende, aber nicht alle Teile des Bildes. Warum, das bleibt ja die Frage, fällt es der politischen Linken angesichts dieses Szenarios so schwer, Mehrheiten zu gewinnen? In Niedersachsen scheint der lange für wahrscheinlich gehaltene rot-grüne Sieg am Sonntag fraglich. Eine rot-grüne Mehrheit bei der Bundestagswahl im Herbst ist eher kühne Hoffnung als realistische Chance.

Die hippe CDU

Dabei stehen Gerechtigkeit und soziale Sicherheit, also Werte, auf die die SPD das Copyright beansprucht, bei den Bürgern hoch im Kurs. Auch fast die Hälfte der Union-Wähler wünscht sich mehr soziale Sicherheit, nur ein Viertel will mehr Markt. Eigentlich müsste dies eine günstige Situation für die SPD sein, um das gegnerische Lager zu spalten. Woher rührt dann ihre Schwäche, die nicht nur an der schlechten Presse für ihren ungelenken Kanzlerkandidaten liegen kann?

Die übliche Erklärung lautet: Angela Merkel. Die Kanzlerin hat es verstanden, die meisten Kontroversen abzuräumen. Mindestlohn? Die Union ist zumindest nicht mehr dagegen. Energie? Ist seit Merkels rasanter Atomkraftwende ein Thema für Experten. Ihr Erfolg geht über Inszenierungskünste und furiose Anpassungsleistungen weit hinaus. Die Marke Merkel funktioniert nur, weil sie einen kulturellen Modernisierungsprozess der Union verkörpert. Bis etwa 2005 verfügte das rot-grüne Milieu in Fragen des Lebensstils über die Definitionshoheit – die Union galt als Hort des Altbürgerlichen, als Spießerclub, der endlos an den Spätfolgen von 1968 litt und dem Hedonismus und Selbstverwirklichungsideale als Gefährdungen des Abendlandes galten. Doch die Zeit der autoritären Patriarchen Kohl & Dregger ist vorbei. Altmaier, Schavan und eben Merkel verkörpern einen anderen, neuen Typus: offen, pragmatisch, flexibel bis zur Farblosigkeit. Die weichen Themen, von der Familien- über die Genderpolitik bis zu genereller Hipness, sind kein automatisches Plus mehr für das linke Lager. Die Union ist auf leisen Sohlen an die postmateriellen Milieus anschlussfähig geworden.

Muttis Wattebausch

Merkel, heißt es auch, habe alle Politik kunstvoll in einem großen Wattebausch verpackt, den die SPD nicht zu durchdringen vermag. Dieses Bild misst der Kanzlerin aber eine Macht zu, die sie nicht hat. In Wirklichkeit füllt sie nur clever einen vakanten Platz aus. Die Bürger scheinen sich in einen Modus politischer Indifferenz zurückgezogen zu haben, den der indifferente, entscheidungsschwache Stil der Kanzlerin perfekt spiegelt. Zur Eurokrise etwa sagen mehr als zwei Drittel der politisch Interessierten, sie hätten keine Ahnung, worum es geht. So jedenfalls das Ergebnis einer Allensbach-Umfrage vom Oktober 2012.

Es herrscht eine Art freundliche Gleichgültigkeit, eine Mischung aus Ignoranz, dem Gefühl, überfordert zu sein, aus diffuser Zukunftsangst und dem Erfahrungswissen, dass es so schlimm schon nicht werden wird. Genau diese Stimmung kommt der Union zugute. Merkel hat nicht die Macht, die Gesellschaft in politischen Dämmerschlaf zu versetzen. Sie ist aber geschickt genug, keinen Lärm zu machen. Und die SPD wirkt ratlos, ob sie auf den Gong schlagen soll, also Merkels Europolitik frontal attackieren oder weiterhin die Rolle der loyalen Opposition spielen soll. Das ist die kniffligste, wohl entscheidende Frage für die SPD.

Dass sich die Sozialdemokraten so schwertun, aus der zunehmenden sozialen Schieflage Kapital zu schlagen, liegt nicht nur an der kulturell halbwegs modernisierten Union und der Komplexität der Finanzmarktkrise. Es gibt tiefer liegende Gründe. Auch Teile der sozialdemokratischen Kernklientel profitieren ja direkt von dem deutschen Krisenmodell. In der Exportindustrie, in der jede(r) Dritte beschäftigt ist, sind die Löhne in den letzten zehn Jahren, anders als im Durchschnitt, recht ordentlich gestiegen. Dass die SPD im Bundestag stets für Merkels Europolitik votierte, kann man aus vielen guten Gründen für falsch halten. Doch die SPD hat ein handfestes Motiv, sich nicht allzu weit von Merkels auf deutsche Interessen gerichteter EU-Politik zu entfernen. Sie riskiert dabei, mit ihrer eigenen Basis über Kreuz zu geraten.

Kein Geld für die Unterschicht

Der soziale Riss trennt auch die Lohnempfänger, die vom deutschen Exportmodell profitieren, von dem unteren Fünftel

Wie eigennützig auch die deutsche Arbeiterbewegung in der EU-Frage agiert, ließ sich im November 2012 beobachten. Während Südeuropa streikte, verschickten die deutschen Gewerkschaften pflichtschuldig ein paar Solidaritätsadressen. Die Analyse der IG-Metall-Spitze fiel damals nüchtern aus: „Wenn wir zu Aktionen aufgerufen hätten, wäre keiner gekommen.“

Die komplizierte Wahrheit ist, dass der soziale Riss nicht nur zwischen dem besser verdienenden oberen Zehntel und dem Rest der Gesellschaft verläuft. Die Spaltung trennt auch jenen Teil der Lohnempfänger, die von dem aggressiven deutschen Exportmodell profitieren, von dem unteren Fünftel, das in dem Niedriglohnsektor schuftet, den Rot-Grün bis 2005 so beherzt ausgebaut hat. Der Facharbeiter, der bei VW oder Siemens gut verdient, hat andere Interessen als ein Wachmann, der für 7 Euro Stundenlohn jobbt. Das Gefühl, dass es gerechter zugehen sollte, ist das eine – aber für die Unterschicht zu zahlen, etwa weil der Hartz-IV-Satz steigt oder der Friseur wegen 10 Euro Mindestlohn das Doppelte kostet, etwas anderes.

Die SPD versucht all diese Widersprüche auszubalancieren, indem sie ein eher linkes Programm mit einem konservativen Kandidaten kombiniert. Es sieht nicht so aus, als würde dies funktionieren. STEFAN REINECKE