JÜRGEN GOTTSCHLICH ÜBER DIE TÜRKISCHEN PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN
: One-Man-Show mit Kratzern

Der Ball ist jetzt im kurdischen Feld. Nur sie können eine Diktatur noch verhindern

Gesiegt und doch nicht gewonnen. Recep Tayyip Erdogan hat erreicht, was er immer wollte. Er ist in direkter Wahl zum Staatspräsidenten der Türkei gewählt worden und darf sich nun in eine Reihe mit dem bis heute verehrten Gründer der Republik, Mustafa Kemal „Atatürk“ stellen. Insofern hat das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen Erdogan tatsächlich den Eintrag in die Geschichtsbücher gebracht, von dem er seit Langem geträumt hat. Trotzdem gibt es einen entscheidenden Haken. Die 51,8 Prozent der Stimmen, die er für sich verbuchen konnte, entsprechen bei Weitem nicht den Erwartungen Erdogans und seiner engsten politischen Berater.

Erdogan und seine Günstlinge hatten mit mindestens 55 Prozent und mehr der abgegebenen Stimmen gerechnet. Die meisten Meinungsumfragen hatten Erdogan 56 bis 58 Prozent vorausgesagt. Gemessen daran war der Wahlabend für den neuen türkisch Präsidenten eine herbe Enttäuschung.

In absoluten Zahlen liegt er ungefähr bei derselben Anzahl der Stimmen, wie sie seine Partei bei den Kommunalwahlen im März erreichen konnte, und das waren umgerechnet gerade mal knapp 45 Prozent. Nur weil viele Gegner Erdogans erst gar nicht zur Wahl gingen, da das Ergebnis ja sowieso festzustehen schien, hat er die 50-Prozent-Marke im ersten Anlauf überwinden können.

Das ist keine kosmetische Frage nach dem Motto, „Gewonnen ist gewonnen“. Denn jeder Prozentpunkt weniger für Erdogan macht die weitere Gestaltung der neuen Machtverhältnisse schwieriger.

Erdogan und seine Berater hatten gehofft, einen so überwältigenden Sieg einzufahren, dass sie die Parlamentswahl, die im kommenden Jahr stattfinden soll, vorziehen können in der Hoffnung, dann eine verfassungsändernde Mehrheit zu gewinnen. Denn Erdogan steht nun vor dem Problem, ein legitim gewählter Präsident zu sein, dem die Verfassung jedoch nur überwiegend repräsentative Aufgaben zuschreibt. Das ist natürlich nicht seine Vorstellung. Daher will Erdogan mithilfe einer neuen Verfassung das Amt des Präsidenten massiv aufwerten – in etwa so wie in den USA oder Frankreich. Doch das dürfte nun wesentlich schwieriger werden, als er erhofft hatte.

Mit anderen Worten: Die One-Man-Show in der Türkei, die viele befürchtet und nicht weniger gewollt hatten, ist bei Weitem nicht perfekt. Obwohl Erdogan alle Mittel eines amtierenden Ministerpräsidenten in grotesk unfairer Weise im Wahlkampf ausgereizt hat, obwohl er mittlerweile sämtliche TV-Anstalten entweder kontrolliert oder komplett eingeschüchtert hat, sodass von den Oppositionskandidaten im Fernsehen so gut wie nichts zu sehen war, hat sich an den Verhältnissen im Vergleich zu den Kommunalwahlen und den Parlamentswahlen 2011 kaum etwas verändert.

Ein Blick auf die politische Landkarte der Türkei zeigt: Erdogan siegt in Zentralanatolien und am Schwarzen Meer. An der Ägäisküste und am Mittelmeer gewinnt indessen die säkulare Opposition und im Südosten des Landes der Kandidat der Kurden. In Istanbul gab es ein Patt von 49 zu 49 Prozent.

Da eine Zusammenarbeit mit der säkularen Opposition allen Versprechungen in Erdogans Siegerrede zum Trotz kaum vorstellbar ist, liegt der Ball nun im kurdischen Feld. Mit seinen knapp 10 Prozent hat Selahattin Demirtas, der Kandidat der Kurden und auch der türkischen Linken, einen Achtungserfolg eingefahren, der ihn persönlich und die Kurden insgesamt bei künftigen Verhandlungen mit Erdogan und seiner AKP erheblich stärken werden.

Ohne die kurdischen Stimmen wird Erdogan kaum eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament bekommen. Wenn Demirtas sich an seine Wahlversprechen hält, wird er quasidiktatorischen Vollmachten für Erdogan im Tausch für mehr kurdische Autonomie nicht zustimmen. Es müssten dann also Kompromisse ausgehandelt werden. In den letzten Monaten lehnte er das rundweg ab.

In den kommenden Wochen wird sich nun zeigen, ob Erdogan versuchen wird, seine Alleinherrschaft trotzdem mit der Brechstange durchzusetzen, oder ob er tatsächlich, wie er in seiner Rede nach der Wahl ankündigte, nun auf die 50 Prozent, die ihn nicht gewählt haben, zugehen wird.

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