Erfolgsmodell Brasilien

An diesem Wochenende wird entschieden: Soziale Reformpolitik oder liberaler Rollback?

■ ist Journalist und Soziologe. Seit über neun Jahren lebt er in Rio de Janeiro und berichtet seit 2012 für deutsche Zeitungen, Agenturen und Radios aus der Region. Zuvor koordinierte er die Arbeit von Pulsar Brasil, der Presseagentur des Weltverbands Freier Radios (Amarc) in Lateinamerika. Er ist Brasilienkorrespondent der taz.

In Brasilien steht am Sonntag nicht nur die Präsidentschaft zu Wahl. Das Land steht vor einer Richtungsentscheidung: Fortsetzung des sozialen Erfolgsmodells der vergangenen zwölf Jahre, einer staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik, der Armutsbekämpfung und einer unabhängigen Außenpolitik. Oder ein Rollback, zurück zum Glauben an den Markt, und ein Ende der regionalen Integration, was zahlreiche Länder des Kontinents in Mitleidenschaft ziehen würde. Der neue Politstar Marina Silva hat es versäumt, eine Alternative zu diesen klassischen Optionen zu entwickeln, und ist zu einem Joker der Rechten geworden.

Seit Bestehen der UN ist Brasilien das Land, das bei der jährlichen Generalversammlung als erstes zu Wort kommt. So auch am 24. September diesen Jahres: „Gewalt schafft nur neue Gewalt, militärische Interventionen sind das falsche Mittel, um Frieden zu schaffen“, sagte Präsidentin Dilma Rousseff. Wie fast alle Redner nach ihr verurteilt Rousseff das Vorgehen des Islamischen Staates mit scharfen Worten, geißelte jedoch Obamas Luftangriffe ebenso wie das bewaffnete Vorgehen zahlreicher Verbündeter.

Nichteinmischung und Krisenlösung durch Verhandlungen sind seit zwölf Jahren ein Primat der brasilianischen Außenpolitik. Die Regionalmacht, die das Vertrauen der meisten lateinamerikanischen Staaten genießt, gerät dadurch immer wieder in Konflikt mit den USA. Besonders deutlich wurde das Beharren auf den eigenen Interessen beim NSA-Abhörskandal, als Rousseff schlicht ihren Besuch in Washington absagte, nachdem bekannt wurde, dass auch sie direkt abgehört worden war.

Rousseff nutzte das UN-Podium auch, um die sozialen Errungenschaften ihrer Regierung aufzuzählen. Erstmals ist Brasilien nicht mehr auf der Welthungerkarte der UN gelistet; immer mehr Menschen sind aus der Armut geholt worden. Rousseff spricht mit eindringlicher Stimme, eine brillante Rednerin ist sie nicht. Auch fehlt es der selbstbewussten Frau an Charisma. Und doch spricht sie für das Brasilien, das eigene und neue Wege geht und auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken kann.

Die Opposition indes geißelte den Auftritt der Präsidentin, schließlich herrschte bereits Wahlkampf. Rousseff konterte mit Verweis auf ihre drei bisherigen UN-Reden, in denen sie ebenfalls zu sozialen Fortschritten Stellung genommen hatte. Indirekt stellt sie damit die Frage, warum für andere Staatschefs Sozialpolitik kein Thema ist, und auch frühere brasilianischen Regierungen sich in Schweigen hüllten. Natürlich weiß sie auch, dass Brasilien vor allem in der Sozialpolitik vielen Ländern und UN-Organen als Vorbild gilt.

Gewinnt Rousseff an diesem Wochenende die Wahlen, wäre es bereits die vierte Amtsperiode der Arbeiterpartei, die 2002 mit Lula an die Macht kam und seitdem erfolgreich und mit hohen Beliebtheitswerten regiert. Die konservative Opposition, gemeinsam mit den durchweg rechten Massenmedien, versucht seit geraumer Zeit, Rousseff in die Nähe von Korruptionsskandalen zu rücken und malt das Gespenst einer aufziehenden Wirtschaftskrise an die Wand.

Aber erst ein Flugzeugabsturz konnte den sicher geglaubten Sieg der Amtsinhaberin in Frage stellen. Eduardo Campos, einst enger Verbündeter der PT und seit vergangenem Jahr Verfechter einer Art dritten Weges in der brasilianischen Politik, kam im August während einer Wahlkampftour ums Leben. An seiner Stelle kandidiert nun Marina Silva, die populäre frühere Umweltministerin, die unter Campos für die Vize-Präsidentschaft antreten wollte. Silva, die bereits vor vier Jahren als Kandidatin der Grünen Partei auf überraschende 20 Prozent der Stimmen gekommen war, gilt mittlerweile als schärfste Konkurrentin von Rousseff. Ihre Auftritte sind fulminant und haben heftige Debatten um neue politische Konstellationen in Brasilien ausgelöst. Doch vertreten Marina Silva und ihre kleine Parteienkoalition wirklich einen dritten Weg?

Das Prozedere ist zunächst verwirrend. Nur drei Kandidaten haben Aussicht auf den Einzug in den zweiten Wahlgang, die anderen, die von ganz rechts bis ganz links fast alle Optionen präsentieren, werden jeweils kaum über ein Prozent kommen. Rousseff vertritt die pragmatische Mitte-Links-Option. Aécio Neves, Kandidat der rechten PSDB, vertritt das konservative Spektrum und das Unternehmertum. Dieser Zweikampf prägt seit über 20 Jahren die brasilianische Politik, und ist mit verantwortlich für eine breite Politikmüdigkeit, da die jeweiligen Koalitionsregierungen für Korruption anfällig sind und an der Macht kleben.

Marina Silva ist eine dritte, neue Option. Bislang weiß niemand genau, welche Politik sie vertritt, ob sie rechts oder links ist, und welche Kräfte sie unterstützen. Kaum zur Kandidatin gekürt, wurde sie zum Spielball der alteingesessenen Kräfte, die sie entweder in den Himmel lobten oder abgrundtief verdammten. Statt neuen Wind, neue Vorschläge in die festgefahrene Politik zu bringen, verfestigten ihre Auftritte die althergebrachten Positionen des Zweiparteiensystems und ihrer Anhänger.

Die Unterstützer der PT, allen voran die Rousseff-kritischen sozialen Bewegungen, sehen in Marina Silva eine Bedrohung der sozialen Errungenschaften. Zwar spricht Silva viel von Sozialpolitik und Gleichberechtigung. Im Wahlkampf wurde jedoch deutlich: Sie setzt auf eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik und will die Rolle des Staates zurückdrängen. Sie wird anders als Rousseff oder Lula anderen linken Staaten in Lateinamerika weniger diplomatische Unterstützung zukommen lassen. Auch eine moralische Wende ist zu befürchten, da sie aktives Mitglied einer evangelikalen Kirche ist. Ein „dritter Weg“ ist bisher nicht zu erkennen, im Gegenteil, sie wirkt eher wie die alte Rechte in einem neuen Gewand.

Die Presse hingegen feiert Silva als neuen Star mit großen Zukunftsvisionen. Sie sei das Sprachrohr der Massendemonstrationen vom Juni 2013, die für politischen Wandel eintraten. Offenbar geben viele Konservative ihrem eigentlichen Kandidaten Aécio Neves keine Chance und setzen auf Silva, um einen erneuten PT-Sieg zu verhindern.

Gleichzeitig ist es durchaus möglich, dass Silva ihre neuen konservativen Freunde gar nicht so lieb sind. Die wirtschaftlich wie sozial erfolgreiche PT-Regierung ist mit den üblichen Rezepten der Konservativen kaum zu besiegen.

Für Brasilien steht viel auf dem Spiel. Das plötzliche Auftauchen von Marina Silva kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in Brasilien zwei ökonomische Modelle gegenüberstehen. Zum einen eine unternehmerfreundliche Politik, die sich an neoliberalen Konzepten und strategisch an den USA orientiert. Zum anderen eine nachfrageorientierte Politik, die eine Einmischung des Staates in die Wirtschaft gutheißt und Sozialprogramme sowie den Kampf gegen Armut in den Mittelpunkt rückt.

Zurecht wird von links oft kritisiert, dass auch die Regierung Rousseff den Unternehmern zu sehr entgegenkommt, das Agrarbusiness bevorzugt, Ökologie und indigene Rechte missachtet. Doch wäre es fatal zu glauben, es mache keinen Unterschied, ob PT oder PSDB regieren.

Wie konträr die beiden Modelle sind, wird allein daran deutlich, wie abgrundtief die Rechten, die Reichen und die, die etwas zu verlieren haben, Lula, die PT und Dilma hassen. Marina Silva, so lassen ihre Aussagen und ihre Freunde vermuten, kritisiert den Status quo von rechts und wird im Falle eines Wahlsieges auf das traditionelle Politgeschäft angewiesen sein und dem Rollback die Tür öffnen.

Es ist daher politisch richtig, dass angesichts der knappen Wahlumfragen große Teile der sozialen Bewegungen die Kritik hintanstellen und zur Verteidigung der Errungenschaften der letzten zwölf Jahre, also der Wahl Rousseffs aufrufen. Marina Silva hat es versäumt, ihre Beliebtheit dazu zu nutzen, echte Alternativen aufzuzeigen. Ihre „neue Politik“ blieb konturlos, und sogar auf ihrem Spezialgebiet, der Umweltpolitik, ließ sie sich schnell zu der Aussage verleiten, sie sei „nie gegen Gentechnik in der Landwirtschaft gewesen“.

Auch der Irrglaube, sie repräsentiere die diffuse Protestbewegung des vergangenen Jahres, hielt nicht lange an. Diese forderte vor allem mehr und bessere öffentliche Dienstleistungen: Geld für Gesundheit, Bildung und Nahverkehr, was mehr staatliche Verantwortung bedeutet. Silva aber setzt auf mehr Markt und Unternehmerfreiheit, und weniger auf Regulierung durch die öffentliche Hand.

Viele, die Marina Silva wählen werden, haben von den zwölf Jahren PT-Politik profitiert. Sie sind Teil der neuen Zivilgesellschaft, die Lula und Rousseff erst möglich gemacht haben. Dies ist das Erfolgsmodell, das offenbar schon so selbstverständlich geworden ist, dass viele glauben, es nicht mehr verteidigen zu müssen.