Ich heirate die Familie

Lisa Bokemeyer und Stephan Cohrs haben die traditionelle Zweierbeziehung hinter sich gelassen. Und damit die schlimmsten Fallen der Eifersucht. Mit dem Filmfestival „Facetten polyamoren L(i)ebens stellen sie das Alternativmodell zur Diskussion

„Erst war das Leben in einer offenen Beziehung mit allen Schwierigkeiten, dann kam das Konzept von Polyamory“

von ANNEDORE BEELTE

Man muss die richtigen Worte finden. Es gibt kein „Netz“, keine „Szene“. Dagegen verwahren sich Lisa Bokemeyer und Stephan Cohrs. Was gibt es dann? Erstmal eine sperrige Definition: Polyamory meint Liebesverhältnisse mit mehreren Personen mit dem Wissen aller. Der Rest ist Aushandlungssache unter den Beteiligten, kreative „Bastelarbeit“ und natürlich: „Teamwork“. Eine ältere Zuschauerin im Kinosaal des Oldenburger Cine K meldet sich zu Wort: „Das ist doch sowas wie Polygamie, oder?“

Vermutlich haben die Veranstalter des bundesweit ersten Filmfestivals, das „Facetten polyamoren L(i)ebens“ mit genau dieser Frage gerechnet. „Nein“, erklärt es Lisa Bokemeyer, „das wäre ja eine Rechtsform“. Ihr Kollege Stephan Cohrs empfiehlt Nachhilfeunterricht durch die Dokumentarfilmschleife, die im Vorraum läuft. Die richtigen Worte zu finden, ist nicht einfach.

Lisa Bokemeyer findet es tragisch, Freundeskreise zerbrechen zu sehen, wenn eine Zweierbeziehung auseinander geht. Oder, programmatischer formuliert: „Mono-Normativität zerstört soziale Netze.“ Die Alternative zur traditionellen Zweierkiste fand sie auf einer groß angelegten Polyamory-Konferenz 2005 in Hamburg.

Als „positiven Schock“ beschreibt sie die Entdeckung der Ehrlichkeit. In mononormativen Beziehungen, davon ist sie überzeugt, ist Ehrlichkeit schwierig. Wer auf den Nachbarn oder die vorbeischlendernde Blondine abfährt, sollte das tunlichst für sich behalten. Das Grundprinzip bei Polyamory hingegen heißt „ganz viel miteinander reden“.

„Es ist ein ganz anderer Umgang mit Eifersucht“, erklärt Lisa Bokemeyer. Das Gefühl ist zwar nicht verschwunden, aber die Schuld wird nicht mehr beim Partner gesucht. Statt „der andere tut mir weh“ heißt es nun: „Das ist mein wunder Punkt“, hier fühle ich mich der vom Partner begehrten Person unterlegen. Was dagegen hilft? Darüber reden natürlich. Und kleine Rituale der Zweisamkeit vereinbaren. Mit keinem anderen Partner in unser Bett oder in das Restaurant, wo wir uns verlobt haben. Und den morgendlichen Milchkaffee kochst du nur für mich.

Um die polyamourösen Beziehungsgeflechte zu überschauen, könnte man Soziogramme zeichnen: Ketten, Kreise, Spinnennetze. Lisa Bokemeyer zum Beispiel sieht sich am Rand eines solchen Geflechts – und genießt es, sagt sie. Der Kern oder die „Primärpartnerschaft“ sei fester gefügt. Am Rand sind die Beziehungen lockerer, aber keineswegs unverbindlich. „Ich heirate die Familie“, nennt es Lisa Bokemeyer. Stephan Cohrs dagegen knüpft sein Netz aus einer bestehenden Kern-Partnerschaft heraus, in der er schon mit verschiedenen Formen experimentiert hat. „Erst war das Leben in einer offenen Beziehung mit allen Schwierigkeiten, dann kam das Konzept von Polyamory, was uns hilft, unsere Beziehungspraxis weiter zu verbessern.“

Durch eine solche Großfamilie, meint Lisa Bokemeyer, sei das Leben keineswegs komplizierter geworden – im Gegenteil. „Ich bin nicht allein für alle Bedürfnisse verantwortlich, ich muss nicht immer da sein.“ Indes ist auch die soziale Kontrolle höher. Der Umgang mit Eifersuchts- und anderen Paarkonflikten wird quer durchs Geflecht diskutiert. Wenn nur die „mono-normative“ Außenwelt nicht wäre. Lisa Bokemeyer war erschrocken über die Reaktionen, als sie auf Sponsorensuche für das Festival ging. „Ich bin Protestant und kein Hallodri“, war einer der harmloseren Kommentare. „Die Leute erinnert das Thema an die Verletzungen, die sie erlitten haben, wenn sie betrogen wurden“, vermutet Bokemeyer.

„Deswegen schieben sie es von sich weg.“ Für die Reaktionen im Freundeskreis gibt es ein Wort: „Ich werde geschlampt.“ Paarewenden sich ab aus Angst, das man in ihre Beziehung eindringen könnte. Singles mit Torschlusspanik werfen den Polyamourösen vor, ihre Auswahl möglicher Partner unnötig weiter zu dezimieren. Doch auch umgekehrt wird schweres argumentatives Geschütz aufgefahren: Polyamory-TheoretikerInnen wissen, dass Eifersucht das Mordmotiv Nummer Eins ist. Unter mono-normativ geprägten Heteros natürlich. Als „starvation economy“, Hungerwirtschaft, bezeichnen Dossie Easton und Catherine A. Liszt, Autorinnen der Polyamory-Bibel „The Ethical Slut: A Guide to Infinite Sexual Possibilities“, monogame Beziehungen. Statt von Mangel und damit Konkurrenzen, formuliert Stephan Cohrs, geht er von Fülle und gegenseitigem Verbündet-Sein aus. „Ich will nicht unter meinen Möglichkeiten leben.“ Dennoch: „Polyamory ist kein Gegenkonzept zur Monogamie“, betont Lisa Bokemeyer, „sondern eine Ergänzung.“

Filme zu finden, die Modelle gelebter Polyamory-Beziehungen zeigen, war nicht einfach, berichten die Festival-Veranstalter. So brüstet gleich der Eröffnungsfilm „Obsession“ (1997) mit Heike Makatsch und Daniel Craig die Theorie gegen den Strich. Hier akzeptieren zwei rivalisierende Männer am Schluss notgedrungen, dass die Frau sie beide liebt. Von Freiwilligkeit kann keine Rede sein. Und wie sie ihre Dreiecksbeziehung gestalten werden, darüber schweigt der Film.

Von einem Bild-Klischee, meint Lisa Bokemeyer, müsse man sich verabschieden: Dass in Polyamory-Geflechten ständig Gruppensex und flotte Dreier geschoben werden. Dafür werden viele Formen von Nähe möglich, wenn die Grenze zwischen „Freundschaft“ und „romantischer Liebe“ aufgehoben ist: platonische Liebe, Sex ohne Anfassen. Obwohl – da streiten Lisa Bokelmeyer und Stephan Cohrs ein bisschen: Was markiert eigentlich diese Grenze? Die miteinander verbrachte Zeit? Die Ausschließlichkeit? Solche Normen gibt es in Freundschaften auch. Monogame Strukturen stecken halt überall tief drin.

Polyamory-Filmtage bis Sonntag im Cine K, Bahnhofstr. 11, Oldenburg, Karten: 0441-2489646, Programm: http://www.cine-k.de/neu/aktuell/, geänderter Workshop-Termin: So 10-16h