Schein der Erinnerungen

Eine Frau ist angeklagt, vor 26 Jahren ihren Sohn ermordet zu haben. Viele trauen ihr die Tat zu. Eine Zeugin will den Mord beobachtet haben – aber die Frage ist, ob sie sich das nur ganz fest einbildet. Heute werden vor Gericht die Plädoyers gehalten

AUS OLDENBURG FELIX ZIMMERMANN

Es ist nicht so, dass Monika K. es einem leicht machen würde, ihr Verhalten nicht merkwürdig zu finden, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, sie nicht abzustempeln als Mörderin ihres Sohnes Markus, damals, im August 1981, vier Jahre alt.

Zu ungerührt lässt Monika K. diesen Prozess über sich ergehen, den sie als Angeklagte eines Kindesmordes im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Oldenburg erlebt. Unablässig macht sie sich Notizen, nie verzieht sie eine Miene. Sie sitzt nur da, die Mundwinkel nach unten, der Blick leer. Und dann das permanente Mitschreiben. Genau so merkwürdig habe sie sich damals verhalten, sagt eine Zeugin. Als sie die Angeklagte kurz nach dem Tod des Jungen mit dem Verdacht konfrontierte, sie sei die Mörderin, habe Monika K. dagesessen wie ein Stein. „Das ist kein normales Verhalten für eine Mutter, die gerade ihr Kind verloren hat. Genau so, wie sie jetzt als Schriftführerin hier ist“, sagt die Zeugin.

Ist Monika K. so ruhig, weil sie weiß, dass sie es nicht war und deshalb sicher, dass sie nicht verurteilt werden wird? Ist sie so verschlossen, dass nichts von dem nach außen dringt, was sie im Innersten bewegt? Ahnt sie, dass die Plädoyers heute auf Freispruch lauten werden, weil schlampig ermittelt wurde und die Aussage der Zeugin zusammengebrochen ist? War sie es? War sie es nicht?

Der Fall lag unaufgeklärt im Archiv. Markus war am 19. August 1981 von seinen Eltern als vermisst gemeldet worden. Die Suche im Wohnviertel der Familie im Oldenburger Randbezirk Kreyenbrück blieb ohne Erfolg. Am Tag darauf fand ein Polizist die Leiche des Jungen an einem nahen Bahndamm im Gebüsch. Markus K. war erdrosselt worden. An der Kleidung der Mutter fanden sich Kletten, die auch am Fundort der Leiche vorkamen, an der Damenstrumpfhose, die Markus um den Hals geschlungen war, hingen Fasern aus der Wohnung der Familie. Monika und ihr Mann Dieter K. aber hatten ein Alibi. Zum Todeszeitpunkt suchten sie mit der Polizei nach dem Kind.

Erst durch die Aussage der Cousine von Markus im vergangenen Sommer, der heute 36-jährigen Daniela A., wurde der Fall wieder aufgerollt. Als Neunjährige will sie beobachtet haben, wie Monika K. ihren Sohn, Danielas besten Spielkameraden, ermordete.

Sie hat dem Gericht unter Tränen erzählt, wie sie der Tante, die Markus auf den Gepäckträger ihres Fahrrads gesetzt hatte, hinterher fuhr, die Tante über die Straße, sie selbst parallel dazu auf dem Rad durch ein Einkaufszentrum, wie sie ihr Rad an eine Bushaltestelle lehnte und Monika K. und dem Kind auf den Bahndamm folgte. Dort habe die Tante den Jungen geschlagen, er habe gezappelt und sich plötzlich nicht mehr geregt. Daniela A. sei zum Fahrrad gerannt, wollte nach Hause, wurde von Monika K. eingeholt und bedroht: „Dir passiert das Gleiche, wenn du was sagst. Du weißt ja jetzt, wie‘s geht.“ Seitdem lebte Daniela A. in Angst, seitdem sei ihr das Leben misslungen. Sie ritzt sich die Arme auf, hat für ihre drei Kinder das Sorgerecht verloren, ist dreimal geschieden, saß wegen Betrugs im Gefängnis. Damit soll nun Schluss sein, die Aussage ist Teil einer Lebensbeichte.

Es klang alles glaubwürdig, und es passte vielen ins Bild von Monika K. Nachbarinnen, die vor Gericht als Zeuginnen aussagten, beschrieben sie als eiskalte Frau, von der sie auch beklaut wurden. Viele trauten ihr die Tat damals schon zu. Polizisten sprachen von extremer Gefühllosigkeit. Die Oldenburger Nordwest-Zeitung titelte früh von der „Mörderin“, die die neunjährige Zeugin bedroht habe.

Nur: Was ist die Aussage der Zeugin Daniela A. wert? Der Vorsitzende Richter der 5. Strafkammer Harald Leifert hat die Aussage ins Wanken gebracht. Er fragte bei der Oldenburger Busgesellschaft VWG nach, ob es die Haltestelle, an der die Zeugin ihr Fahrrad abgestellt haben will, damals gab. Es gab sie nicht, sie wurde erst 1984 eingerichtet, als das Einkaufszentrum eröffnet wurde. Auch das gab es also nicht. Wo Daniela A. hindurch gefahren sein will, waren Wiesen.

Das Gericht hat A.s Glaubwürdigkeit durch Max Steller, forensischer Psychologe an der Berliner Charité, begutachten lassen. Er berichtet vom Phänomen der Scheinerinnerungen; jemand kann davon überzeugt sein, etwas erlebt zu haben, was aber tatsächlich nicht stattgefunden habe. Die Tatsache, dass sich Daniela A. an Irreales erinnert, wertet Steller als Schwachpunkt der Aussage. Für A.s Glaubwürdigkeit spricht, dass sie sich bei der erneuten Vernehmung am Tatort an einen Jungen erinnerte, der dort gestanden habe, wo die Angeklagte mit dem Kind zum Bahndamm einbog. Diesen Jungen gab es. Vor Gericht sagte er, er habe am fraglichen Tag eine Frau mit Kind auf dem Gepäckträger gesehen, konnte sich aber an kein Mädchen erinnern. Steller wollte sich nicht festlegen in der Frage, ob A. glaubwürdig ist oder nicht. Er gab zu bedenken, welchen Einfluss ein Umfeld auf ein junges Mädchen gehabt haben könne, in dem die Überzeugung herrschte, Monika K. müsse die Mörderin sein.

Das Urteil verkündet das Gericht am 22. Februar. Auch wenn es für viele längst fest steht.