Ketzer der Vernunft

Ist Religion schlicht überflüssig geworden? Der Kulturjournalist Alexander Kissler kämpft in seinem Buch „Der aufgeklärte Gott“ für Rehabilitationsmöglichkeiten und schlägt Vernunft mit Glauben

VON RUDOLF WALTHER

Die letzten Jahre belebten das Berufsfeld von Religionskritikern. Da gibt es die Islamkritiker, die sich dem Publikum als „säkulare Muslime“ andienen, wie zum Beispiel die Soziologin Necla Kelek, und jede Menge Hirnforscher, Neurobiologen, Bioethiker und Berufsatheisten, die Religionen als Geisteskrankheit darstellen und ihnen mehr oder weniger schroff den Kampf ansagen. Der Autor Alexander Kissler nennt sie „Religionshasser“ oder „neue Atheisten“ – etwa den Biologen und Bestsellerautor Richard Dawkins mit seinem Buch „Der Gotteswahn“.

Es stellt sich die Frage, ob sich eine Auseinandersetzung mit Dawkins’ Thesen überhaupt lohnt, denn seine unkritische Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, die als Wissen verkauft, was nur Spekulation ist, unterbietet geradezu das intellektuelle Mindestniveau. Jürgen Habermas hat in seiner Friedenspreisrede von 2001 diesem Naturalismus, dem man allenfalls philosophische Naivität oder politische Interessiertheit bescheinigen kann, kurz und bündig eine Absage erteilt: Die Vorstellung, „gedankliche Inhalte biologisch erklären“ zu können, führt in eine Sackgasse. „Der szientifische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie.“

Das Thema Glauben und Wissen beziehungsweise die Abgrenzung beider Bereiche bleibt aktuell. Die Existenz von Religionen und von Gläubigen ist nicht damit aus der Welt zu räumen, dass viele sie für überflüssig halten. Habermas verlangte deshalb von der Politik und der säkularen Öffentlichkeit, dass sie sensibel bleiben für „die Artikulationskraft religiöser Sprachen“, und forderte Säkulare wie Gläubige auf, „auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen“ – was nur Ignoranten als Ankündigung deuteten, Habermas sei fromm geworden oder wolle Terroristen mit Gesprächsangeboten therapieren.

Auch Alexander Kissler möchte mit seinem Buch einen Beitrag leisten zum alten Thema Glauben und Wissen oder zur „Kollisionsgeschichte von Glauben und Vernunft“ seit 2000 Jahren. Um es vorwegzunehmen – er scheitert auf ganzer Linie, weil er nicht einmal den Versuch unternimmt, zu differenzieren zwischen dem, was Vernunft in der Antike, was sie im Mittelalter, in der Zeit der Aufklärung und im nachmetaphysischen Zeitalter meint.

Natürlich verwechseln jene, die sich heute je nach Bedarf auf die „ökonomische“, die „demografische“, „biologische“ oder „politische Vernunft“ berufen, nur Vernunft mit Interesse. Aber durchsichtiger Missbrauch rechtfertigt nicht Kisslers Pauschalurteil, „die Vernunft“ sei „längst selbst zu einem religiösen Dogma geworden“.

Kissler argumentiert auf dem Boden einer granitenen Glaubensgewissheit und einer religiösen Selbstzufriedenheit. Vernunft charakterisiert er am liebsten mit dem abwertenden Diminutiv vom „Wörtlein Vernunft“ oder spricht vom „zersetzenden Zweifeln“, wenn die vermeintlich göttliche Herrschaft über Argumente und Gegenargumente von „Auferstehungszweiflern“, die früher Ketzer hießen, hinterfragt wird.

Abschätzig spricht er vom „Bibliothekar Lessing“ und lobt hingegen dessen Hauptgegner im Fragmentenstreit, den frömmelnden Johann Melchior Goeze, als einen „tapferen Pfarrer“. Lessings Ringparabel fertigt Kissler auf drei Seiten als „Märchen“ ab. Mit dem Denkriesen Immanuel Kant, der Vernunft und Glauben in die Schranken gewiesen hat, ist er ebenso schnell fertig: „plumpes Sprachspiel“.

Kissler ist kein schäumender Fanatiker, sondern ein stolz kokettierender Brachialkatholik vom Schlage des Aufklärungsgegners Louis de Bonald, den er zitiert, während er gleichzeitig den Stolz wie eh und je zur „Todsünde“ erklärt. Glaubenschauvinismus ist der Zwillingsbruder des Selbstwiderspruchs. Aufklärern wie Denis Diderot unterstellt er einen „eliminatorischen Toleranzbegriff“, und dem Philosophen und Bibelkritiker Hermann Samuel Reimarus wirft er vor, er anerkenne „keine Wunder, keine Auferstehung und keine Trinität“. In diesem Genre kennt sich Kissler besser aus als bei Lessing, Kant und Diderot. Wie gehabt – der Brachialkatholizismus „denkt“ ohne Rücksicht auf intellektuelle Verluste.

Kisslers Gewährsleute – mit Ausnahme von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. eher subaltern bis unbekannt – halten die Existenz Gottes wie der Autor selbst für „eine vernünftige Grundannahme, ohne die unser Leben Spuk und Trug nur wäre“. Kissler bewegt sich damit ganz auf der Geisterbahn von Ratzingers Regensburger Rede, mit der der Papst den Katholizismus als einzige vernunftnahe Religion anpries. Jürgen Habermas sah darin nur „einen Rückfall hinter Kant“. Der Papst verspielte seinen Ruf als Theologe und erhöhte – vielleicht – seine Autorität in Sachen Auferstehung bei den schon Gläubigen.

Alexander Kissler: „Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam“. Pattloch Verlag, München 2008, 288 Seiten, 16,95 Euro