Nicht einfach parasitär

KRISE Real- und Finanzökonomie sind nicht mehr klar zu unterscheiden, sagt Christian Marazzi. Es geht um eine neue Form der Kapitalakkumulation

Schnörkellos bringt er die Krise der Gemeinschaftswährung auf den Punkt

VON ULRIKE HEIKE MÜLLER

Das wichtigste Buch über die Krise hat in dieser Herbstsaison ein Italiener geschrieben. Auf gerade mal 122 Seiten seziert Christian Marazzi Ursachen, Wirkungen und Folgen des ökonomischen Bebens, das uns alle gerade in Atem hält. Doch damit begnügt sich der Autor nicht. Er ruft gleichzeitig dazu auf, zur Tat zu schreiten: Um ein Kreditsystem „von unten“ zu begründen, „ist es erforderlich, die gesellschaftlichen Kräfte, Subjektivitäten und Konfliktformen zu analysieren, die politisch Neues hervorbringen und so tatsächlich für einen Ausweg aus der Krise stehen können.“

Wie so ein neues Finanzsystem konkret aussehen soll – das weiß der Ökonom nicht. Damit unterscheidet er sich wohltuend von den vielen Besserwissern seiner Zunft, die stets genau wissen, was zu tun ist. Der Wirtschaftsprofessor an der Uni im schweizerischen Lugano geht davon aus, dass die neuen Regeln kollektiv und ohne Hierarchien definiert werden. Solche Steuermechanismen kristallisierten sich in lokalen und globalen Formen des Widerstands gegen den Krisenkapitalismus heraus. Die junge Occupy-Bewegung ist ein anschauliches Beispiel. Marazzi: „Es gibt heute keine fertigen Rezepte, nur die feste Überzeugung, dass jedwede Zukunft von uns selbst abhängt.“

Für dieses Programm liefert er die intellektuelle Basis. Pointiert und prägnant. „Es ist eine systemische Krise, in der ein ökonomisches, politisches und kulturelles Modell als Ganzes unter der Last der eigenen Widersprüche zusammenbricht“, schreibt Marazzi am Beginn seines Essays. „Es ist der Bankrott eines gesellschaftlichen Modells; es bleiben Wut, Ernüchterung, Misstrauen und Protest – und die Frage nach den Grenzen des Kapitalismus.“

Den Ausgangspunkt bildete die Analyse, wie es dazu kam, dass Geld gegenüber der realen Wirtschaft im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer dominanter wurde. Vor allem der Versuch von Firmenchefs und Managern, die Industriekrise ab Ende der 60er Jahre zu überwinden, legte Marazzi zufolge die Grundlage für den heutigen Finanzkapitalismus. Damals schrumpften die Gewinne der Unternehmen in den Augen der Verantwortlichen derart bedenklich, dass sie begannen, nach neuen Einnahmequellen zu suchen. Zunehmend verlegten sie sich auf das Verdienen von Geld mittels Geld. Ökonomen prägten für dieses Phänomen den spröden Begriff Finanzialisierung. Deren Folgen müssen gerade alle ausbaden.

Vor allem gelingt es Bankern, Managern von Hedgefonds und anderen Spielern auf dem Finanzmarkt, Geld von den weniger Betuchten zu den Wohlhabenden umzuverteilen. Marazzi stellt auch dar, warum die ausufernden Staatsschulden letztlich die Ausdehnung der Finanzlogik auf den öffentlichen Raum verkörpern. „Es ist dieser Übergang von der Regierung als dem staatlichen Modus, Wachstum und Verteilung zu regulieren, zur Governance als einer technokratischen […] Herrschaftspraxis, die in der Krise der Staatsverschuldung international zu beobachten ist.“

Schnörkellos bringt er die gegenwärtige Krise der Gemeinschaftswährung auf den Punkt: „Der Euro […], faktisch eine Währung ohne Staat, funktionierte als ein Vehikel der Finanzialisierung der Ökonomie und der öffentlichen Ausgaben, ohne dass dadurch Handelsungleichgewichte innerhalb der Eurozone abgebaut worden wären; diese haben sich im Gegenteil sogar zugespitzt.“

Christian Marazzi gehört zu jenen Ökonomen, die sich vorstellen können, dass das gegenwärtige Durcheinander erst mit dem Zusammenbruch des Euro endet. Solchen Gedankenspielen wäre der Boden entzogen, wenn die verantwortlichen Politiker bei der Einigung Europas nicht die Kapitalmärkte in den Mittelpunkt gestellt hätten, sondern die Interessen der ganz normalen Menschen. Dies wäre auf eine Harmonisierung der Lohn- und Steuersysteme hinausgelaufen, und erst danach wäre die Währung an der Reihe gewesen.

Ein ausgeprägtes Verständnis dafür, wie politisches Denken funktioniert, bewahrt den Autor davor, angesichts der Fehler bei der Krisenbekämpfung wahllos auf die Volksvertreter zu schimpfen. Gleichwohl macht er die Konsequenzen allzu hasenfüßiger Entscheidungen klar: „Die Langsamkeit, mit der die Einsicht reift, dass es sich um die Zahlungsunfähigkeit des Bankensektors in seiner Gesamtheit handelt […] sowie die Schwierigkeit, den zweifellos komplizierten Knoten zu lösen, den die Verstaatlichung großer Banken darstellt (selbst noch, nachdem der amerikanische Staat mit 36 Prozent des Aktienkapitals zum Hauptaktionär der Citigroup wurde), werden einen extrem hohen Preis fordern.“

■ Christian Marazzi: „Verbranntes Geld“. Aus dem Italienischen von Thomas Atzert. Diaphanes Verlag, Zürich/Berlin 2011, 135 Seiten, 14,90 Euro