Die Schattenseite des Aufstiegs

VORWÄRTS Die Sozialdemokratie gibt es seit 150 Jahren. Gleich drei neue Bücher analysieren, wie es mit der Partei weitergeht

Man muss Franz Walter einfach mal loben. Niemand kritisiert die SPD mit so ausdauernder Leidenschaft

VON STEFAN REINECKE

Von der Emanzipation zur Meritokratie“, verfasst von dem Göttinger Professor Franz Walter und Stine Marg, ist ein kleines, leichtes Buch über 150 Jahre SPD. Eine Skizzensammlung, die doch ein Bild ergibt. Die Kernthese lautet, dass die SPD an ihrem eigenen Erfolg leidet. Sie hat den individuellen Aufstieg durch Bildung als Ziel propagiert. Nicht die Herkunft, sondern Talent und Fleiß sollten zählen. Die sozialdemokratische Bildungsreform der 70er Jahre war beseelt von dem Ethos der Chancengleichheit. „Die Söhne und Töchter sozialdemokratischer Dreher, Drucker, Schriftsetzer und Maschinenbauer legten universitäre Examen ab, stiegen jede(r) für sich sozial auf und verabschiedeten sich von ihrem Klassenhintergrund.“

Dieser Befund ist nicht neu – hier aber scharfsinnig ins Allgemeine weitergedacht. Sollen wir uns die Meritokratie, in der die Chancengleichheit oberstes Gebot ist, als eine gute Gesellschaft vorstellen? Walter hat eine Satire des Labourpolitikers Michael Young von 1958 ausgegraben, die anschaulich den Schrecken einer Gesellschaft ausmalt, in der nur der soziale Aufstieg zählt. Während die akademische Elite Geld, Macht und Aufmerksamkeit monopolisiert, verfällt die Unterschicht in Depression. Sie lebt im Elend, hat nichts zu sagen, keine kollektive Idee – und jeder Einzelne ist daran auch noch selbst schuld.

In diese schwarze Vision lassen sich die Abgründe der sozialdemokratischen Erfolgsgeschichte zurückspiegeln. Auch die Sozialdemokratie hat, vor allem unter Blair und Schröder, eine ähnliche Spaltung durchlaufen. Es gab viele Bildungsgewinner, aber auch „ein Restproletariat“ von Bildungsfernen, das nun Treibstoff des europäischen Rechtspopulismus geworden ist.

Das Buch schlägt einige von solchen kühnen, aber gekonnten Bögen zwischen Biografischem und Parteisoziologie. So ist ein knapper Essay über Ferdinand Lassalle, den Gründer des SPD-Vorläufers ADAV, Einstieg in eine Typologie der bürgerlichen Intellektuellen, die die SPD von Kautsky bis zu Peter Glotz prägten. Lassalle war ein Spross aus großbürgerlichem Hause, ein Bohemien, gegen den Peer Steinbrück wie ein Parteisoldat wirkt.

Man muss Franz Walter einfach mal loben. Niemand kritisiert die SPD mit so ausdauernder Leidenschaft, wobei anzunehmen ist, dass Leiden eine Quelle dieser Arbeit ist. Und Leiden wächst ja nur aus innerlicher Verkettung. Das mildert auch den Vorwurf des Sprunghaften. Denn mal fällt Walters Blick von links unten, mal von rechts oben auf die SPD. Kein anderer Parteienforscher umkurvt die Sprachwüsten seines Fachs so souverän.

Dies trifft für den Suhrkamp-Band „Die Gute Gesellschaft“ nur bedingt zu. Die Reihe der AutorInnen ist illuster, von Andrea Nahles bis Colin Crouch. Die 17 Aufsätze umkreisen meist die Frage, wie die Rekonstruktion des Sozialdemokratischen gegen die Übermacht von Finanzmärkten und Ökonomie gelingen kann. Leider oft in einer Sprache, aus der alles Anschauliche, Pointierte sorgsam getilgt scheint.

Gesine Schwan versucht Bildung als zentrales Kampffeld für die sozialdemokratischen Schlüsselbegriffe Freiheit und Gerechtigkeit auszubuchstabieren. Denn Bildung entscheidet, über welche Wahlfreiheiten der Einzelne später verfügt. Das Prinzip des Wettbewerbs aber taugt nicht für Bildung. „Die Ehrgeizkultur der Wettbewerbsgewinner schafft unvermeidlich Verlierer, deren Selbstwertgefühl sinkt.“ (Schwan) Dieser Befund liest sich wie ein Spiegel der Meritokratie-Kritik. Schwans Ausweg ist das Einfache, das in einer Wettbewerbsgesellschaft schwer zu machen ist: ein radikal egalitäres Bildungssystem, das ohne starren Blick auf den Weltmarkt jeden Einzelnen fördert.

Wohin soll die SPD, nach all den Erschöpfungen, die sie erlebte? Zurück zur Tradition? Nein, „Zur Freiheit“, so der Titel des Essays von Oliver Schmolke, Leiter der Planungsgruppe der SPD-Fraktion. „Links und liberal sind in Deutschland verfeindet“, so der Befund. Die Liberalen flohen im 19. Jahrhundert aus Angst um ihren Besitz vor der Sozialdemokratie in die Arme der Konservativen. Und dort wuchs der „Dämon der liberalen Idee, der Sozialdarwinismus“, der die Gleichheit verachtet. Umgekehrt war die Arbeiterbewegung skeptisch gegen bürgerliche Freiheiten, von denen sie lange ausgeschlossen war. Und die 68er-Linke habe, anfangs unter dem Banner der Freiheit angetreten, ausgerechnet die „liberale Kultur verteufelt“. Kurzum: Linke und Liberale brauchen sich, um ihre eigenen Dämonen zu bekämpfen.

Politisch zielt dieser Essay auf eine realpolitisch geerdete SPD. Vor allzu scharfer Kritik am Markt oder Illusionen über die Occupy-Bewegung wird milde gewarnt.

Schmolke ist ein Mann des Steinmeier-Lagers. Seinem schroffen Antiislamismus, der manchmal aufscheint, will man energisch widersprechen – gerade weil er keinem liberalen Selbstverständnis erwächst. Doch was überzeugt, ist der weite Blick. Man erwartet in SPD-Büchern ja nicht, dass aus Bob-Dylan-Songs die Dialektik der Freiheit herauspräpariert wird. Wo die Freiheit fehlt, wird sie am meisten ersehnt. Doch ist sie errungen, schmeckt sie „eher fade“, so Schmolke. Es ist dieser reflektierte, erzählende Stil, der „Zur Freiheit“ auszeichnet.

Franz Walter, Stine Marg: „Von der Emanzipation zur Meritokratie“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, 160 S., 19,99 Euro

Christian Kellermann, Henning Meyer (Hg.): „Die Gute Gesellschaft“. Suhrkamp, Berlin 2013, 318 S., 15 Euro

Oliver Schmolke: „Zur Freiheit“. Vorwärts, Berlin 2013, 122 S., 10 Euro