Briefe in einer turbulenten Zeit

MARX-FORSCHUNG In der aufwendigen MEGA-Ausgabe ist ein weiterer Band mit dem Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels erschienen

In die Jahre 1862/64 fallen wichtige politische Ereignisse, die Marx und Engels laufend kommentieren

MEGA2 ist kein Gag von Werbefritzen, sondern das Kürzel für die zweite Version der „Marx-Engels-Gesamtausgabe“, die 1972 in der DDR begonnen wurde und seit 1990 von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung fortgesetzt wird. Zu dieser Stiftung gehören das Internationale Institut für Sozialgeschichte (Amsterdam), die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die Friedrich-Ebert-Stiftung (Berlin) und das Russländische Staatliche Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (Moskau). Die Berliner Akademie koordiniert und verantwortet die Editionsarbeit der in internationaler Kooperation erarbeiteten Bände. Die erste Version der MEGA erschien in den 1920er Jahren in Moskau und wurde Mitte der 1930er Jahre nach dem 11. Band auf Befehl Stalins abgebrochen.

Zu DDR-Zeiten erschienen im Institut für Marxismus-Leninismus die ersten 34 Bände der MEGA2. Die Edition hatte einen so guten wissenschaftlichen Ruf, dass die Arbeit daran nach 1989 nicht abgewickelt wurde. Bislang erschien die Hälfte der 114 Doppelbände (Text- und Kommentarband). Soeben kam der 12. von 35 Bänden mit den Briefen von Marx und Engels heraus. Im Unterschied zur Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) drucken die Briefbände der MEGA2 nicht nur die Briefe von Marx und Engels und an ihre Briefpartner, sondern auch deren Briefe an die beiden.

Der vorliegende 12. Band enthält auf 1.529 Seiten die Briefe aus dem Zeitraum vom Januar 1862 bis zum September 1864 und den wissenschaftlichen Apparat dazu. 425 erhaltene Briefe von und an Marx und Engels kommen darin vor, 278 Briefe stammen von Dritten, die meisten davon liegen jetzt erstmals gedruckt vor. Der Kommentarband enthält die Überlieferungsgeschichte der Dokumente, sachdienliche Erläuterungen und Kommentare sowie sieben Register und Verzeichnisse, die das riesige Material erschließen. Die übersichtliche, leserfreundliche Textpräsentation und der wissenschaftliche Apparat von Galina Golovina, Tatjana Gioeva, Rolf Dlubek und Hanno Strauß erfüllen höchste Ansprüche, die an solche Editionen gestellt werden.

1862 war für Marx und seine Familie ein Jahr schlimmster Not. Am 18. Juni 1862 schrieb Marx an Engels: „Meine Frau sagt mir jeden Tag, sie wünschte, sie läge mit den Kindern im Grab, und ich kann es ihr wahrlich nicht verdenken, denn die Demütigungen, Qualen und Schrecken, die in dieser Situation durchzumachen sind, sind in der Tat unbeschreiblich.“ Marx verlor in diesem Jahr mit der New York Tribune (damals die größte US-amerikanische Zeitung) und der Wiener Presse seine beiden wichtigsten Einnahmequellen. Vor dem Armenhaus rettete die Familie einzig der großzügige Freund Friedrich Engels, ein kleines Erbe von Marx’ Mutter (100 £) und das Vermächtnis des Kommunisten Wilhelm Wolf (800 £).

In die Jahre 1862/64 fallen als wichtige politische Ereignisse, die Marx und Engels laufend kommentieren, der amerikanische Bürgerkrieg, die Einigung Italien, der polnische Aufstand , der Verfassungskonflikt in Preußen und der deutsch-dänische Krieg um Schleswig.

Ein zentrales Thema der Briefe bildet Marx’ Arbeit an der „Kritik der politischen Ökonomie“, deren erster Band 1867 als Band 1 des „Kapital“ erschien. „Die Reinschrift des Sau-Buchs“ (Marx) bereitete dem Autor enorme Schwierigkeiten, und die Niederschrift nahm unter der Hand den Charakter eines neuen Entwurfs an. Der ursprüngliche Plan mit sechs Büchern (1. Kapital, 2. Grundeigentum, 3. Lohnarbeit, 4. Staat, 5. auswärtiger Handel, 6. Weltmarkt) erwies sich als unausführbar, und Marx entschloss sich mitten in der Arbeit, „nur das erste dieser Bücher im Einzelnen auszuarbeiten“. Der Rest des Werks blieb ein riesiger Berg von Fragmenten und Entwürfen, deren mustergültige wissenschaftliche Aufarbeitung in der MEGA2 15 Bände in 22 Teilbänden auf rund 12.000 Seiten umfasst.

Das politisch herausragende Ereignis war der amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865). Engels kommentierte diesen Krieg als Militärfachmann ebenso wie den deutsch-dänischen Krieg. Marx interpretierte den Bürgerkrieg in den USA politisch als „Kampf zweier sozialer Systeme, des Systems der Sklaverei und des Systems der freien Lohnarbeit“. Marx bewunderte Abraham Lincoln und sah im Dekret zur Abschaffung der Sklaverei „das bedeutendste Aktenstück der amerikanischen Geschichte seit der Begründung der Union“. Für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx ist die MEGA2 unentbehrlich. RUDOLF WALTHER

Karl Marx/Friedrich Engels: Briefwechsel. Januar 1862 bis September 1864, MEGA2, Briefwechsel, Bd. 12, hg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung, Akademie Verlag, Berlin 2013, 1.529 Seiten, 198 Euro