„Von Widerspruch bestimmt“

LESUNG Pinar Selek stellt ihre Studie „Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt“ vor

■ 40, ist Soziologin, Schriftstellerin und Feministin. In der Türkei wurde ihr vorgeworfen, einen Bombenanschlag verübt zu haben. Sie war zwei Jahre in Haft, wurde gefoltert – und mehrfach freigesprochen. Der Fall liegt nun vor dem obersten Berufungsgericht, die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft.

Frau Selek, in der Türkei droht Ihnen eine lebenslange Haftstrafe. Wie konzentrieren Sie sich da auf die wissenschaftliche Arbeit?

Pinar Selek: Wenn ich mich nicht konzentriere, werde ich verrückt. Ich versuche nicht daran zu denken. Wenn man produktiv ist, fühlt man, dass man am Leben ist. Gerade habe ich in Straßburg meinen Roman fertig gestellt. Ende November wird er im Orlando Verlag auf deutsch erscheinen.

Für Ihre Studie über männliche Sozialisation haben Sie türkische Wehrpflichtige interviewt. Warum?

In der heutige Welt, mit all der Gewalt, müssen wir die Verbindung von Militär und Männlichkeit verstehen. Männlichkeit ist nichts biologisches, sondern wird durch die Gesellschaft erschaffen, durch Mechanismen wie im Militär. In Deutschland gibt es zwar keine Wehrpflicht mehr, aber ebenso viele Mechanismen, Männlichkeit zu prägen wie in der Türkei. Wir leben in einer globalen Welt. Für mich ist es daher wichtig, über Herrschaft und Gewalt zu sprechen.

Was heißt „Mann Sein“ in der Türkei?

Es ist von einem Widerspruch bestimmt: von dem Zwang stark sein zu müssen, sich aber nicht stark zu fühlen, in einer hierarchischen Gesellschaft dominieren zu sollen, aber vielleicht arm zu sein und physisch nicht stark. Dieser Minderwertigkeitskomplex ist eine Grundlage der Gewalt. Männer wenden keine Gewalt an, weil sie stark sind, sondern weil sie dominieren wollen. Es ist aber wichtig, dass es nicht den einen Typ Mann in der Türkei gibt, ebenso wenig wie in Deutschland.

Unterscheiden sich türkisch sozialisierte Männer in der Türkei und in Deutschland?

In Deutschland haben sie eine Menge anderer Probleme, mit anderen Anreizen zur Gewalt. Es gibt eine starke Diskriminierung, sie fühlen sich hier noch minderwertiger. Hier ist es für sie schwieriger, ihre Männlichkeit zu entwickeln. Ihre „männliche Ehre“ ist in Gefahr.

Wie wurde ihre Studie in der Türkei aufgenommen?

Alle Zeitungen haben darüber berichtet. Ich habe Preise gewonnen. Es gibt eine Militarisierung der Gesellschaft. Die müssen wir beenden. Militarismus und Nationalismus sind eine große Gefahr für die Türkei. Ich mag mein Land. Sie haben dort viele Probleme, aber die ganze Zeit diskutieren sie auch darüber.

 Interview und Übersetzung: JPB

19 uhr, St. Pauli-Gemeindezentrum, Große Krankenstrasse 11