„Kein bloßes Ausklingen“

LEOPOLDINA-AUSSTELLUNG Die Bürgerschaft zeigt ab heute neue Bilder vom Älterwerden

■ ist Psychologie-Professorin und Vizepräsidentin der Jacobs University Bremen.

taz: Frau Staudinger, die Ausstellung „Neue Bilder vom Alter(n)“ zeigt in einem Wettbewerb ausgewählte Fotografien in Abgrenzung zu „nicht mehr zeitgemäßen Altersbildern“. Was heißt „nicht mehr zeitgemäß“?

Ursula Staudinger: Die subventionierte Frühverrentung der 70er Jahre hat die Vorstellung geprägt, das Lebensziel bestehe darin, sich von Arbeit zu befreien. Dabei ist es gerade die strukturierte Tätigkeit, die sich in vielen Untersuchungen als sinnstiftend und gesundheitserhaltend erwiesen hat. Das hat auch mit Visibilität zu tun: Durch Tätigkeit wird man von anderen positiv wahrgenommen.

Aber ist die heute vorherrschende Unsichtbarkeit der Alten nicht ein vergleichsweise modernes Phänomen? War die Gesellschaft nicht jahrhundertelang gerontokratisch geprägt?

Leider nicht, das sind Mythen. Mit der Erfindung der Schrift trennt sich das Erfahrungswissen vom Menschen, der die Erfahrung hat. Natürlich finden wir in antiken Gesellschaften ein Senioritäts-Prinzip, aber das gilt nur partiell. Heute muss man sich damit auseinander setzen, dass die Menschen immer älter werden, die Zeit nach der Berentung also als eigenständige Lebensphase aufgefasst werden muss. Mit 60 hat man noch 25 oder 28 Jahre vor sich, das ist kein bloßes „Ausklingen“, als das es früher aufgefasst wurde.

Ist die durchschnittliche Lebenswartung nicht deutlich geringer?

Bei Geburt schon. Wer jedoch 60 geworden ist, ist schon einigen Risiken entwischt und hat statistisch gesehen noch 25, als Frau noch 28 Jahre vor sich. Jedes zweite der derzeit in Deutschland geborenen Mädchen, sagen die Demographen, wird sogar 100 Jahre alt.

Was soll man mit all dieser Zeit anfangen?

Wenn man dreimal dreißig Jahre vor sich hat, wäre es sinnvoll, die Lebensbereiche Privates, Beruf und Bildung stärker zu durchmischen. In der Zeit zwischen 30 bis 60 klagen viele darüber, dass sie unter akutem Zeitmangel leiden. Andererseits wäre es durchaus sinnvoll, auch im letzten Drittel berufstätig zu bleiben. Die bemerkenswert alt werdenden Bewohner der japanischen Okinawa-Inseln zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch in hohem Alter noch aufs Feld gehen oder ihre Läden führen. Eine Verschiebung des Renteneintritts-Alters in Deutschland macht freilich nur Sinn, wenn sich gleichzeitig die Arbeitsumstände ändern. Es geht nicht darum, die Menschen in den Arbeitsprozessen auszutauschen, sondern darum, letztere besser an die Menschen anzupassen.

Interview: HENNING BLEYL

Ausstellungs-Eröffnung: 19 Uhr, Bürgerschaft (bis 13. April)