Wer hungert, will klein bleiben

ESSSTÖRUNG Wenn Mädchen und junge Frauen nichts essen, tun sie das oft aus Angst vor dem Erwachsenwerden, sagt Sozialpädagogin Melanie Rottmann – und erklärt die Gründe, den Verlauf und die Folgen der Magersucht

Zunächst ist nur die Schokolade tabu, dann sind es plötzlich alle Süßigkeiten

VON BETTINA LEVECKE

Klar ist: Die öffentlichen Gelder sind knapp. Wenn die Hamburger Gesundheitsbehörde trotzdem 100.000 Euro zur Verfügung stellt, muss es wichtig sein. In fünf Hamburger Bezirken gibt es ab sofort neue Beratungsangebote für Jugendliche mit Essstörungen.

Sie hungern, stopfen wahllos Kuchen und Pommes in sich hinein, erbrechen oder treiben nach dem Essen exzessiv Sport – problematisches Essverhalten bei Jugendlichen gibt es in vielen verschiedenen Formen und Krankheitsgraden. Die aktuellen Forschungsergebnisse des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Berlin liefern bedrückende Zahlen dazu: Fast jedes dritte Mädchen im Alter zwischen 11 und 17 Jahren zeigt Hinweise auf eine Essstörung, auch jeder zehnte Junge ist betroffen.

„Viele Jugendliche stehen unter einem enormen Druck“, sagt Melanie Rottmann. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin und Abteilungsleiterin des Beratungsangebots sMUTje (Starthilfe für mutige Jugendliche mit Essstörungen) und weiß um die Häufigkeit dieses Problems. Kummer, traumatische Erlebnisse, Jo-Jo-Effekt und Dauerdiät: Die Gründe für die Essstörungen sind so individuell wie die Jugendlichen selbst. In der Summe gibt es aber deutliche Gemeinsamkeiten. „Viele Mädchen wollen dem gängigen Schönheitsideal entsprechen“, sagt Rottmann. „Schön zu sein“ sei dabei in den Köpfen vieler Jugendlicher gleichgesetzt mit „dünn sein“. Eine rundliche Figur hingegen gelte als klares Manko. „Wer dick ist, wird auch häufiger ein Opfer von Mobbing, zum Beispiel Schulhofhänseleien“, sagt die Sozialarbeiterin.

Selbst eine normale Figur kann zur Belastung werden, wenn der persönliche Attraktivitätsanspruch die berühmt-berüchtigte „Size Zero“ erfordert. „Aus den Beratungsgesprächen wissen wir, dass viele Essstörungen mit einer Diät beginnen“, sagt Rottmann. „In der Zeit der Pubertät vergleichen Jugendliche sich auch stark mit Gleichaltrigen, wollen vielleicht genauso schlank wie die beste Freundin sein.“ Sind die ersten Kilos erstmal erfolgreich weggehungert, erleben Mädchen sehr oft Anerkennung und positive Bestätigung von Freunden oder auch aus der Familie: „Wenn die Mädchen merken, dass sie mit dem Abnehmen gut ankommen, kann sich der Prozess schnell verselbständigen.“

Gefährlich wird es vor allem dann, wenn die Diätstrategien immer ausgefeilter werden. „Typisch ist zum Beispiel, dass nach und nach auf immer mehr Lebensmittel verzichtet wird.“ Zunächst ist nur die geliebte Schokolade tabu, dann sind es plötzlich alle Süßigkeiten. „Und irgendwann stehen ganz normale und wichtige Lebensmittel, wie Nudeln oder Kartoffeln auf der schwarzen Liste der Magersüchtigen.“ Auch vermehrter Sport gehe oft mit einer Essstörung einher, nicht etwa in Form von moderatem Joggen oder Radfahren. „Im fortgeschrittenen Stadium fallen Essgestörte dadurch auf, dass sie gar nicht mehr still sitzen können, regelrecht hyperaktiv sind.“

Gemeinsam ist vielen magersüchtigen Mädchen eine sehr perfektionistische Persönlichkeit. „Wir erleben in unseren Beratungen junge Mädchen, die einen extrem hohen Anspruch an sich selbst und ihr Leben haben.“ Die Erwartungen seien dabei regelrecht überfrachtet – besonders im Hinblick auf die Zukunft. „Die Mädchen haben zum Teil ein sehr konkretes Bild von ihrem Leben als Erwachsene, obwohl sie gerade selbst erst am Anfang der Pubertät stehen, also noch Kind sind.“ Erst Abi, dann Studium, ein Auslandsjahr, verschiedene Praktika und natürlich überall Superzensuren, den Partner fürs Leben finden, Mutter werden, toll aussehen, erfolgreich sein: „So oder ähnlich beschreiben viele Magersüchtige ihre Lebensvorstellungen“, sagt Melanie Rottmann. „Mit diesen inneren Bildern wird das Erwachsenwerden natürlich als Bedrohung und Last wahrgenommen.“

Deshalb machen sich Angst und ein diffuser Druck breit, das Hungern wird zum Schutzschild. „Die Mädchen halten durch den Essensverzicht ihren Körper kindlich, das schenkt ihnen ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit gegenüber der bedrohlichen Zukunft als erwachsene Frau.“ Wenn ich hungere, bleibe ich klein – ein fatales Krankheitsbild. Denn die Magersucht stoppt nicht nur pubertäre Entwicklungen, wie Menstruation und körperliche Reife, sie kann Mädchen chronisch krank machen, im schlimmsten Fall zum Tod führen. „Wenn das Krankheitsbild voll entwickelt ist, hat die Essstörung ähnliche Dynamiken wie eine Zwangserkrankung“, sagt Rottmann. „An einem Klinikaufenthalt kommt dann kaum ein Mädchen vorbei.“

Deshalb sei frühzeitige Hilfe unerlässlich. „Es ist wichtig, dass Eltern die ersten Zeichen einer Essstörung erkennen und ernst nehmen“, sagt Rottmann. Zum Beispiel, wenn die Tochter über Wochen Diät hält oder plötzlich viel Sport treibt, obwohl sie sonst eher ein Bewegungsmuffel ist. „Oder wenn das Kind nicht mit am Tisch essen will oder sich nicht mehr mit Freunden in der Eisdiele verabredet.“ All das seien laut Rottmann Warnsignale. Das Problem: Die Anfänge der Krankheit seien für die Eltern oft nicht klar erkennbar. „Aber sie können jederzeit auch allein in unsere Beratung kommen und über Auffälligkeiten sprechen.“

Die sMUTje-Beratung wird in den sechs Hamburger Bezirken Wandsbek, Altona, Bergedorf, Harburg und Eimsbüttel angeboten. Jugendliche, aber auch Angehörige oder Fachkräfte aus ihrem Umfeld, können sich dort persönlich vor Ort, aber auch kostenfrei und anonym per Telefon oder Email beraten lassen.

Weitere Infos im Internet: www.bruecke-online.de

oder unter ☎ 040/668 36 36