Alles unter einem Dach

KONSUMKULTUR Das Warenhaus hat vor über 100 Jahren zu einer Demokratisierung des Einkaufens beigetragen. Das neue Büchlein „Kaufrausch Berlin“ erzählt die Geschichte der zentralen städtischen Konsumorte

Das Warenhaus ermöglichte Frauen aller Schichten im Kaiserreich, eine öffentliche Rolle wahrzunehmen

VON OLE SCHULZ

Wenn man zu Wertheim gehe, dann spreche man „wie von einem Ausfluge, den man zu einem schönen Orte der Umgebung macht“, schrieb Gustav Stresemann im Jahre 1900.

Wer sich jetzt schon allein von dem Gedanken an die Weihnachtseinkäufe gestresst fühlt, kann versuchen, das Ganze ähnlich wie der spätere Reichspräsident zu betrachten – als ein besonderes Event: „In der Leipzigerstraße angekommen, bewundert man erst eine ganze Zeit lang die Schaufenster, dann ergeht man sich in den Erdgeschossräumen, sieht sich die verschiedensten Auslagen an, kauft vielleicht hier und da, lässt sich durch den Fahrstuhl in den ersten Stock befördern und nimmt womöglich eine Tasse Chocolade nebst einem obligaten Stück Torte oder Apfelkuchen.“

Bühnen des Konsums

Wie Stresemann den bürgerlichen Inszenierungsraum Warenhaus als Treffpunkt beschreibt, ist eine der historischen Anekdoten, die sich in dem neuen Büchlein „Kaufrausch Berlin“ findet. Die Autoren Katja Roeckner und Jan Sternberg stellen von vornherein klar, dass sie keinen Shopping-Guide verfassen wollten, sondern einen historischen Stadtführer zur Berliner Konsumkultur. Es ging den beiden in erster Linie um die Kauforte, jene Bühnen des Konsums, die wir betreten, wenn wir einkaufen.

Eine zentrale Rolle spielt in Berlin dabei seit langem das sogenannte Warenhaus – eine Pariser Erfindung, die Ende des 19. Jahrhunderts über den Umweg der deutschen Provinz ihren Weg nach Berlin fand. Eine bisher unbekannte Warenfülle – gemäß der „Alles unter einem Dach“- Philosophie – wurde damit kombiniert, dass man alles anfassen und ausprobieren durfte; auch das war neu. Das Warenhaus trug wesentlich zu einer Demokratisierung des Konsums bei, auch weil es Frauen aller Schichten im Kaiserreich ermöglichte, eine öffentliche Rolle wahrzunehmen. „Ehrbare Bürgerfrauen, elegante Damen der Gesellschaft, Trauernde, Kinder, junge Weiber und alte Mütterchen, Häßliche, Schöne, Frische, Elastische, Langsame; ab und zu auch ein Mann“, hieß es 1907 laut „Kaufrausch Berlin“ in einem Bericht über die Warenhaus-Klientel.

Das 1897 eröffnete Wertheim-Warenhaus an der Leipziger Straße wurde zum „Prototyp des glamourösen Warenhauses“. Der Prachtbau gehörte schon zur zweiten Generation der Warenhäuser. Diese waren vornehmlich Geschäftspaläste, welche ältere Billigläden ersetzt hatten. Entworfen vom Hausarchitekten Alfred Messel, beeindruckte der Wertheim-Bau schon von außen und erinnerte an die protzige Repräsentationsarchitektur des Reichstags, innen auf 70.000 Quadratmetern Verkaufsfläche eine breite Mischung aus Massen- und Luxuswaren – heute bieten in Berlin nur die Gropius Passagen mehr Platz zur Zuschaustellung ihrer Waren.

Dem Unternehmer Abraham Wertheim folgten seinerzeit weitere – unter ihnen Rudolph Karstadt, Adolf Jandorf und die Gebrüder Tietz. 1904 gab es bereits über 50 Warenhäuser in der Stadt. Zu einem ersten Bruch in der rasanten Entwicklung kam es durch die Nazis: Die jüdischen Familien Tietz und Wertheim wurden aus ihren Unternehmen gedrängt und diese umbenannt. Der – zumindest zeitweilige – Niedergang begann dann seit den 1960er Jahren, als das Warenhaus kein Konzept gegen die langsam entstehende Konkurrenz von Billiganbietern durch Fachmärkte und Einkaufszentren auf der grünen Wiese wie in der Innenstadt fand.

Im Zweiten Weltkrieg waren viele der alten Warenhäuser bereits zerstört worden. 1955/56 wurde auch die kriegsbeschädigte Wertheim-Ruine an der Leipziger Straße abgerissen; nach dem Mauerfall entwickelte sich in den letzten erhaltenen Gebäudeteilen der „Tresor“ zur Technoclub-Legende – genau dort, wo einst der Tresor von Wertheim untergebracht war. Am Ende wurde das ganze Areal 2006 von der Jewish Claims Conference verkauft – gerade wird dort ein neues Shoppingcenter errichtet, das an der Fassade Elemente des Originals zitiert.

Die Geschichte des Wertheim-Geländes ist irgendwie symptomatisch für die Irrungen und Wirrungen des Typus Warenhaus, das später einfach Kaufhaus genannt wurde: Spätestens nach dem Mauerfall schien es dem Untergang geweiht, doch es hat überlebt – so wie das KaDeWe im Westen oder die Galeria Kaufhaus am Alex; beide sind heute beliebter denn je. Und galt gerade die Shoppingmall, vor allem jene außerhalb der Stadtgrenzen, lange als Bedrohung für die europäische Stadt im Allgemeinen wie des Kaufhauses im Speziellen, gibt es heute viele nebeneinander bestehende unterschiedliche Konsumorte. Von Monomarken-Stores über SB-Warenhäuser bis zu Shoppingcentern – der Markt hat sich derart diversifiziert, dass Experten von „schleichenden Marktveränderungen“ sprechen, „die einstmals erfolgreiche Einzelhandelskonzepte und ihre Immobilien“ ganz plötzlich „ins Abseits katapultieren können“.

„Kaufrausch Berlin“ illustriert diese widerstrebenden Entwicklungen und zyklischen Bewegungen anhand von vier Exkursionen – vom Potsdamer Platz über die City West und den Alexanderplatz bis zur Neuköllner Karl-Marx-Straße. Werden die drei ersten Orte von einem Publikum besucht, das häufig aus anderen Bezirken und zum Teil auch von außerhalb kommt, ist der „Broadway Neuköllns“ mehr eine Einkaufsstraße für Anwohner – das ist typisch für Berlins polyzentrische Struktur. Wie die Kaufhäuser hat auch die Karl-Marx-Straße mit den 90er Jahren ein schwieriges Jahrzehnt hinter sich, sich dennoch ins neue Jahrtausend retten können, ohne sein Gesicht allzu sehr liften zu müssen.

„Kaufrausch Berlin“ macht Lust auf mehr: Gern würde man nicht nur Einblicke in andere Subzentren Berlins erhalten, sondern auch mehr über Fachgeschäfte und Läden in den Seitenstraßen nahe populärer Einkaufsorte erfahren.

■ Katja Roeckner, Jan Sternberg: „Kaufrausch Berlin: Ein Stadtführer zur Konsumkultur“. Vergangenheitsverlag, Berlin 2011, 180 Seiten, 14,90 EURO