Die Mission des Präsidenten

NACHRUF Lech Kaczynski war der Vergangenheit verhaftet und wollte Polens Helden- und Opfermythos erneuern

Als Kaczynski Präsident wurde, knallte er mit den Hacken und rief zu seinem Bruder: „Auftrag ausgeführt“

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

„Gestorben in Petschorsk bei Smolensk, Russland.“ Das steht schon am Todestag Lech Kaczyńskis in seinen Internetbiografien. Polens Präsident wollte an einer Gedenkfeier für die 1940 vom sowjetischen Geheimdienst ermordeten 22.000 polnischen Offiziere teilnehmen. Doch seine Maschine zerschellte, an Bord 96 Personen, darunter viele Hinterbliebene der Katyn-Opfer, zahlreiche Politiker, Polens Armeeführung, einige Bischöfe und Kaczyńskis Ehefrau Maria. Sie alle starben in den Wäldern von Katyn. Ausgerechnet Katyn.

Im Herbst wollte Lech Kaczyński erneut für das Präsidentenamt kandidieren. Mit zuletzt knapp 20 Prozent standen die Chancen zwar schlecht, doch vor fünf Jahren startete er auch von einer aussichtslosen Position – und schlug am Ende den Favoriten Donald Tusk. Damals stach die antideutsche Karte. Die national-konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) der Zwillingsbrüder Kaczyński warf Tusk vor, dass sich dessen Großvater im Zweiten Weltkrieg freiwillig bei der Wehrmacht gemeldet und gegen Polen gekämpft habe. Prompt sanken die Umfragewerte von Tusk. Einen Präsidenten mit einem „Wehrmachts-Opa“ wollten die Polen nicht haben. Nach der Wahl stellte sich heraus, dass der Vorwurf falsch war.

Auch diesmal wollte Kaczyński mit einem historischen Thema punkten. Schon auf der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns auf der Westerplatte in Danzig machte er klar, wohin der Stoß gehen würde: gegen Moskau. Unpassend setzte Kaczyński am 1. September 2009 den deutschen Massenmord an den Juden mit dem russischen Massaker an den polnischen Offizieren gleich. Tatsächlich hat Katyn für Polen eine ähnliche Symbolkraft wie Auschwitz für Juden – in Katyn sollte Polens politische wie kulturelle Elite ausgelöscht werden. Eine ähnliche Politik verfolgten die Nazis in ihrem Teil des 1939 besetzten Polens.

Gedenken als Politik

Kaczyńskis private Gedenkfeier in Katyn mit den Hinterbliebenen der Opfer von 1940 sollte einen Kontrapunkt setzen zu derjenigen, die drei Tage zuvor hochoffiziell am selben Ort abgehalten wurde. In einer Geste hatten sich die Regierungschefs von Russland und Polen, Wladimir Putin und Donald Tusk, die Hand gereicht. PiS-Politiker kritisierten dies als verfrüht und forderten eine erneute Entschuldigung Moskaus für die Verbrechen Stalins an den Polen. Auch seien noch immer nicht alle Geheimdienstakten aufgedeckt. Ohne Wahrheit aber keine Versöhnung.

Die traumatischen Erfahrungen der Eltern im Zweiten Weltkrieg prägten das Leben der Kaczyński-Zwillinge. Als sie am 18. Juni 1949 geboren wurden, lag Warschau in Trümmern. Vater Raimund, ein Ingenieur, und Mutter Jadwiga, eine Philologin, hatten gegen die deutschen und sowjetischen Besatzer gekämpft. Nach 1945, als Polen unter der Knute Stalins blieb und hinter dem Eisernen Vorhang verschwand, durfte weder der Opfer des Warschauer Aufstands von 1944 gedacht noch der Massenmord in Katyn erwähnt werden. Erst mit der Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarność, der sich die Kaczyńskis früh anschlossen, wurde die Zensur etwas gelockert.

Was Ruhm bedeutet, erfuhren die Zwillinge als Kinder. Im Film „Von zweien, die den Mond stahlen“ spielten sie die Hauptrollen. Lech kam, wie auch im Leben, die Rolle des verschmitzt Humorvollen zu, der auf andere zuging. Jarosław war der zynische Stratege und Tüftler. Er gab den Ton an. Augenfällig wurde dies 2005 an dem Tag, als Lech Kaczyński zum Präsidenten gewählt wurde. Auf dem Fest am Abend knallte dieser die Hacken zusammen und rief seinen Bruder zu: „Auftrag ausgeführt“.

Beide studierten Jura und schlossen sich der Opposition an. Lech gab Arbeitern in der Danziger Leninwerft Rechtsauskünfte. Die Kranführerin Anna Walentynowicz, die ebenfalls beim Absturz ums Leben kam, und der damalige Elektriker Lech Walesa, deretwegen der große Streik 1980 in der Werft ausbrach, verließen sich stets auf seinen Rat. Zunächst verfolgten die Zwillinge eine wissenschaftliche Karriere, Lech in Danzig, Jarosław in Warschau. Doch als Polen 1989 die Unabhängigkeit wiedererlangte, stürzten sie sich in die Politik, wurden zunächst Berater von Präsident Lech Wałesa, zerstritten sich bald mit ihm, schlossen sich verschiedenen Regierungen an und gründeten ihre eigene Partei, die national-konservative Recht und Gerechtigkeit (PiS).

Im November 2002 wurde Lech Kaczyński in den ersten freien und direkten Kommunalwahlen zum Oberbürgermeister Warschaus gewählt. Der Ruf des „Sheriffs“, den er sich als Justizminister und selbst ernannter „Kämpfer gegen Kriminalität und Korruption“ erworben hatte, bescherte ihm im zweiten Wahlgang ein Traumergebnis von über 70 Prozent. Seine Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe und Verschärfung des Strafrechts hatten ihn zum beliebtesten Minister des skandalumwitterten Kabinetts von Jerzy Buzek werden lassen. Als Oberbürgermeister Warschaus blockierte er wichtige Investitionen, weil er überall Korruption vermutete und auch die städtischen Beamten unter Generalverdacht stellte. Doch er setzte den Bau des Museums des Warschauer Aufstands von 1944 durch. Pünktlich zum 60. Jahrestag wurde es eröffnet. Vier Tage lang dauerten die Feiern. Kanzler Gerhard Schröder versprach nach seinem Rundgang, dass es keine offenen Vermögensfragen zwischen Polen und Deutschland mehr gebe, die Eigentumsforderungen der deutschen Vertriebenen also gegenstandslos seien. Für Lech Kaczyński war das einer seiner größten politischen Erfolge.

Im Ausland blieb er umstritten, nicht nur wegen seiner Skepsis gegenüber der EU und deren angeblich dekadenten Werten, sondern auch wegen seiner Verbote der Schwulen- und Lesben-Parade in Warschau sowie seiner Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe. In Polen brachte ihm genau dieser „Wertkonservatismus“ bei einer verunsicherten Gesellschaft Pluspunkte ein.

Die „Vierte Republik“

In den ersten fünf Jahren ohne Zensur hatte Polen nicht nur über seine Zukunft in Nato und EU diskutiert, sondern auch über die „weißen Flecken“ in der eigenen Geschichte. Das sowjetische Massaker von Katyn kam zur Sprache, aber auch die Vertreibung der Deutschen, die polnischen Pogrome an Juden während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit brach das über Jahrhunderte tradierte Bild von Polen als den „Helden und Opfern der Geschichte“ zusammen.

Während Donald Tusk als Präsidentschaftskandidat zukunftsorientiert auf den Erfolgsmythos der Freiheitsbewegung Solidarność setzte, bot Kaczyński die mentale Rückkehr zum Jahr 1989 an. Die „Vierte Republik“, die er und die Partei Recht und Gerechtigkeit ausrufen wollten, sollte alle Diskussion vergessen machen, die korrupten Postkommunisten endgültig entmachten und den Helden- und Opfermythos wiederherstellen.

Doch Kaczyńskis Amtszeit stand unter keinem guten Stern. Die Beziehungen zu fast allen Nachbarn verschlechterten sich, insbesondere gegenüber Russland und Deutschland, in denen Kaczyński nichts anderes zu sehen vermochte als die Feinde von einst. Als die PiS auch die Parlamentswahl gewann und eine Koalition mit zwei radikalen Parteien einging, begann der Albtraum „Vierte Republik“: Lech war Präsident, Jarosław Premier. Ihre Feinde waren Deutschland, Russland, die EU und die ominöse „Seilschaft“, die das Land von innen zu zerstören versuchte. Die „moralische Erneuerung“ sollte den Verrätern und Feinden den Garaus machen.

Die „Kartoffelaffäre“

Mit der „Kartoffelaffäre“ 2006 fing die Serie von Missverständnissen, diplomatischen Verwicklungen und Beleidigungsprozessen an, die Polen der Lächerlichkeit preisgaben. Durch eine taz-Satire, in der Lech Kaczyński als „polnische Kartoffel“ bezeichnet wurde, fühlte sich der Präsident so beleidigt, dass er ein Treffen mit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy absagte. Polens Regierung forderte von Merkel eine Entschuldigung. Als der Berliner Regierungssprecher auf die Pressefreiheit verwies, leitete die Staatsanwaltschaft in Warschau ein Ermittlungsverfahren gegen den Autor und die taz-Chefredakteurin Bascha Mika ein.

Auch in der EU gab es Probleme. Während der Verhandlungen zum Lissabon-Vertrag telefonierte Lech Kaczyński von Brüssel aus mehrfach mit Bruder Jarosław, um zu beraten, wie er verhandeln solle. Schließlich riefen Merkel, Sarkozy und Blair direkt in Warschau an. 2007 waren es die Polen dann leid. Nach einem Korruptionsskandal wählten sie die „Vierte Republik“ ab.

Seither steht der EU-freundliche Donald Tusk an der Spitze der Regierung. Trotz Scharmützeln kam er persönlich mit Lech Kaczyński gut zurecht. Die beiden kannten sich aus der Oppositionszeit in Danzig. Doch während Tusk die Politik der kleinen Schritte auch in der schwierigen Geschichtsaufklärung bevorzugt, wollte Lech Kaczyński die ganze Wahrheit, sofort und kompromisslos. Politisch hatten sich die meisten Polen bereits von ihrem Präsidenten abgewandt. Doch sie mochten ihn rein menschlich. Auch und gerade, weil er an seinem Wahrheitsanspruch gescheitert war.

Die spontane Trauer der Polen ist echt, die Kerzen, die Blumen, die lauten Gebete. Sie werden Lech Kaczyński als denjenigen in Erinnerung behalten, der das Museum des Warschauer Aufstands 1944 gegründet hat und „im Dienste der Nation“ auf dem Weg zur Gedenkfeier in Katyn gestorben ist. Damit ist er für die Polen das, was Kaczyński an anderen immer am meisten bewundert hat: ein tragischer Held.