Rock ’n’ Roll mit bekleckertem Pulli

FAMILIE UND POLITIK Jüngere grüne Spitzenpolitiker gehen reihenweise in Elternzeit. Ein neuer Politikertyp, der auf Macht verzichtet? Oder eine neue Masche?

„Meiner Karriere hat es eher genutzt, ein moderner Vater zu sein“, gibt Robert Habeck, Fraktionschef in Schleswig-Holstein, zu

VON ULRIKE WINKELMANN

Bei den Grünen treten jetzt also selbst männliche Spitzenpolitiker einen Schritt kürzer, um sich den Kindern zu widmen. Parteichef Cem Özdemir berichtet stolz, wie er nach der Geburt des Sohnes sechs Wochen zu Haus geblieben ist: „Es ist sicherlich nicht schlecht, wenn man das, was man predigt, auch halbwegs versucht zu praktizieren.“ Wobei klar sei, dass nicht nur die sechs Wochen nach der Geburt zählten, sondern dass „die Bewährungsprobe erst danach“ komme.

Der hessische Fraktions- und Parteivorsitzende Tarek Al-Wazir, obwohl bekniet von vielen Parteifreunden, entschied sich im vorigen Jahr gegen einen Wechsel in den Bundestag. Nicht nur, aber auch der Familie und des damals geborenen zweiten Sohnes wegen. Aber, so fragt etwas spitz Frauke Spreckels, Vorstandsvorsitzende des Verbands berufstätiger Mütter: „Erzählen diese Männer das bloß oder unterstützen sie ihre dann Frauen wirklich?“

Das Misstrauen entspricht den abschätzig gerüschten Mündern sehr vieler Frauen beim Thema „moderner Vater“. Sie werden den Eindruck nicht los, dass dieser sich für jede gewechselte Windel ein Denkmal bauen muss – und der moderne Politikervater damit auch noch Wählerstimmen schinden will. Özdemir will offenbar sagen: Nachhaltigkeit ist lebbar, und all die Kinderlosen und Kinder-Nichtbeachter, die Künasts und Roths, die Trittins und Fischers, die haben die Welt doch nur von anderer Leute Kinder geerbt.

Wickelraum im Bundestag

Wobei das erste mediale Echo auf den neuen grünen Familiensinn eher zwiespältig ausfällt. Rock-’n’-Roller wie Joschka Fischer seien noch ohne eigene Familienleistung ausgekommen, „die Playback-Generation muss indes in Elternzeit“, kommentierte die FAZ die Ankündigung des grünen Oberbürgermeisters von Tübingen, Boris Palmer, demnächst für zwei Monate das Baby zu hüten. Wenn das mal kein Spott über das Papi-Weichei ist, das sich nicht in den rauen Wind der Bundespolitik traut. Auch der Spiegel unkte über den fehlenden „Willen zur Macht“ der „ewigen Talente“.

Nun lässt die Flügel- und Geschlechterarithmetik in der Grünen-Bundestagsfraktion es derzeit ohnehin aussichtslos erscheinen, dass ein Realo-Mann die Fraktionschefin Renate Künast beerben könnte. Doch ist der Kindersegen beileibe nicht nur eine Antwort darauf, dass die Führungsämter gerade besetzt sind.

Als die Vize-Bundestagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt zu Jahresbeginn daranging, den Bundestag babyfreundlicher zu gestalten, meldete die kleinste Fraktion den größten Bedarf an: vier Grüne gegenüber je einer Abgeordneten von FDP, SPD und Linkspartei. Abgeordnete dürfen zwar laut Gesetz keine Elternzeit nehmen. Immerhin wird nun der Wickelraum im zweiten Stock des Reichstags verschönert.

Womit die Frage jedoch noch nicht beantwortet wäre, ob die neue Familienfreundlichkeit bei grünen Männern bloß eine Masche ist – oder ein echter Machtverzicht.

Herr Al-Wazir? Der populäre hessische Grüne, schon früh Joschka Fischers Augenstern, weiß auf diese Frage am Telefon recht cool zu antworten: „Ich befinde mich gerade auf dem Weg zur Landesvorstandssitzung. Die haben wir auf 17.30 Uhr geschoben, weil ich mir den Nachmittag freigeschaufelt habe, um mit meinen Jungs auf unseren örtlichen Faschingszug, die Bürgeler Kappenfahrt, zu gehen.“ Na gut, die Botschaft ist angekommen. Der Mann kümmert sich, und die Kollegen müssen eben so lange warten. Wobei Al-Wazir auch sofort betont, dass weder er noch die anderen grünen Männer-Politiker eine Nur-40-Stunden-Woche haben und selbstverständlich die Frauen den Löwenanteil der Kinderarbeit leisten.

Dass jemand an seinem Stuhl sägt, während er Zeit auf Faschingsumzügen und Kindergeburtstagen verbringt, glaubt Al-Wazir nicht: „In Zeiten des Blackberrys muss man nicht mehr in jedem Hinterzimmer dabei sein“, sagt er.

Darin ist er sich auch mit Boris Palmer einig. Mit einem Kind, sagt der Tübinger Oberbürgermeister, gebe es keine 100-Stunden-Wochen mehr wie in seinem ersten Amtsjahr. „Da tanzt man dann eben auf ein paar weniger Hochzeiten, sprich: ist nicht mehr auf jedem Podium der Republik präsent und klappert auch nicht jeden Kongress mehr ab.“ Er sehe für die acht Wochen Elternzeit im Herbst noch keine Mäuse auf den Tischen tanzen. „Es versucht doch niemand, den Chef zu hintergehen, wenn man weiß, dass der nach zwei Monaten wieder zurückkommt“, sagt Palmer. Und sollte jemand meinen, er sei ein weniger machtbewusster Politiker, weil er acht Wochen sein Kind schunkelt – „es wäre mir so was von wurscht“.

Selbstverständlich aber wird in der Parteipolitik hart um jede Stunde der Prominenten gerangelt. Die Hauptamtlichen werden von der „Basis“, den Ehrenamtlichen kontrolliert – und aufgestellt. Doch Letztere, sofern berufstätig, haben nur abends und an Wochenenden Zeit. Und sie sind eifersüchtiger als jede Gattin, jeder Freund. Da sind dann eben auch die Amtsträger dran, Familie hin, Familie her.

So berichten gleich mehrere Realo-Politiker davon, wie Parteichefin Claudia Roth ihre 2006 schon reichlich geschrumpfte Anerkennung in der Partei wieder ausgebaut habe. „Claudia war immer eine Bank, die hat im Wahlkampf einfach alles gemacht, die hat noch kurz vor Mitternacht im kleinsten Provinznest die Tische zusammengerückt“, heißt es.

Doch Moment: War nicht gerade noch Abwesenheit die neue Machttaktik, sind nicht Kinder plus Blackberry der neue Rock ’n’ Roll? Könnte es sein, dass die kinderlose Roth sich bloß zur Sklavin der Basis macht – während die schnittigen männlichen jungen Politiker die wirklich wichtigen Informationen beim Kinderwagenschuckeln von ihren Smartphones ablesen? Verlieren die Frauen, die zugunsten der Politik schon auf Kinder verzichteten, jetzt auch noch gegen die neuen Kümmermänner?

Einer gibt jedenfalls zu, dass das Kinderhüten sehr wohl mit Macht zu tun hat. Robert Habeck, lange Landesparteichef, jetzt Fraktionschef in Schleswig-Holstein, vermutet: „Meiner Karriere hat es eher genutzt, ein moderner Vater zu sein.“ Der Presserummel, den er für sein Buch „Verwirrte Väter“ einfuhr, war beträchtlich.

Habeck und seine Frau Andrea Paluch waren nicht nur längst ein freies SchriftstellerInnenduo, sondern hatten auch schon vier Söhne, als er bei den Grünen aufstieg. Der Jüngste wird bald acht Jahre alt. „Wenn ich nach diesen ganzen endlosen Abendsitzungen, die ich jetzt als Fraktionschef mitmachen muss, mit schlechtem Gewissen nach Hause komme, wirft sich mir niemand heulend in die Arme“, stellt Habeck verblüfft fest. Die größten Anforderungen stellten eher kleine Kinder.

Dann dauert’s eben länger

Der Start ins Berufspolitikerleben als Fraktionsvorsitzender sei zwar „krasser und schlechter“ gelaufen als gehofft – aber nicht, weil er familienbedingte Abstriche machen musste, sondern weil er sich zunächst zu sehr vom „Klein-Klein des Stundenzettels, der Mitarbeitergespräche und so weiter absorbieren ließ“.

Das Ziel sei es nun, sich nicht einzureden, „dass jeder Sitzungstermin darüber entscheidet, ob ich einen guten Job mache oder nicht“. Es müsse möglich sein, einen neuen Typus Politiker zu etablieren: des Mannes, der sich mit Kindern befasst hat und darum weiß, dass ein Kind mehr braucht als 60 Prozent vom Hartz-IV-Satz. „Weg vom Sterilen, Gelackten, weg vom Trittin’schen ‚Das Private geht keinen an‘ “, sagt Habeck. Der Versuch, das Bild des manchmal bekleckerten Vaters in das des Profi-Politikers zu integrieren, sei „vielleicht eine Masche. Aber mit der Hoffnung auf etwas anderes.“

Allerdings könne das Kinderhüten auch zu einer anderen Form der Karriere führen. „Dann dauert eben alles zehn oder fünfzehn Jahre länger, und man ist nicht mit 32 oder 36 Minister“, sagt Habeck. Einige junge Männer begäben sich derzeit nicht in Positionen, von denen sie fürchten müssten, „sie noch nicht auszufüllen“ – auch der Kinder wegen, sagt Al-Wazir. „Mit Ende vierzig ist auch noch Zeit für eine politische Karriere“, sagt Palmer mit Blick auf die Bundespolitik.

Einer, der ursprünglich gegen Cem Özdemir für den Parteivorsitz kandieren wollte, zog sich vorm Showdown aus der Affäre: Der Berliner Fraktionschef Volker Ratzmann gab im Herbst 2008 kund, dass er mit der Grünen-Bundestagsabgeordneten Kerstin Andreae ein Baby erwarte. Er wolle lieber sie unterstützen, statt um den Parteivorsitz zu kämpfen, sagte er damals. Nun wären seine Chancen ohnehin nicht die größten gewesen. Aber hat er dann wenigstens sein Versprechen eingelöst?

Frau Andreae? Ja, sagt sie, und zwar das ganze Programm: „Fingernägel, Fußnägel, Fieberzäpfchen.“ Andreae, selbstbewusste Reala aus Baden-Württemberg, wird als eine denkbare Nachfolgerin für Künast gehandelt.