Der Täter als Opfer vor Gericht

VERLEUGNUNG Magnus Gäfgen hat Jakob von Metzler ermordet, streitet jedoch vor allen Gerichten, um als Folteropfer der Polizei zu gelten

■ 27. 9. 2002: Jakob von Metzler wird entführt und ermordet.

■ 30. 9. 2002: Magnus Gäfgen wird festgenommen.

■ 1. 10. 2002: Polizeivize Wolfgang Daschner ordnet an, Gäfgen zu drohen, um das Kind zu retten.

■ 28. 7. 2003: Gäfgen wird wegen Mordes verurteilt.

■ 20. 12. 2004: Das Landgericht Frankfurt verwarnt Daschner und Kommissar Ortwin Ennigkeit.

■ 1. 6. 2010: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, dass die Strafe für Daschner zu milde war.

■ 4. 8. 2011: Das Landgericht Frankfurt am Main billigt Gäfgen 3.000 Euro Schmerzensgeld zu.

VON CHRISTIAN RATH

Die Schuld des Magnus Gäfgen ist unstrittig. Er hat vor zehn Jahren den damals elfjährigen Jakob von Metzler ermordet. Doch Gäfgen sieht sich lieber als Opfer, als Opfer der Androhung von Folter im Frankfurter Polizeipräsidium nach seiner Verhaftung. Seit zehn Jahren spielt Gäfgen die Karte des Folteropfers und befeuert so immer wieder die Diskussion über die Frage: Dürfen Polizisten mit Gewalt drohen, um das Leben eines Kindes zu retten?

Am 10. Oktober findet am Oberlandesgericht Frankfurt die nächste Verhandlung statt. Wegen der Folterdrohung hatte Gäfgen auf 10.000 Euro Schmerzensgeld vom Land Hessen geklagt. Das Landgericht gewährte ihm voriges Jahr 3.000 Euro wohl nur deshalb, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die deutsche Reaktion auf die Folterdrohung unzureichend fand. Das Land Hessen jedoch hielt es für unerträglich, dass Gäfgen überhaupt Geld bekommt, und legte Berufung ein.

Vor dem juristischen Tauziehen, vor Schuld und Selbstdarstellung, steht ein Mord, der zunächst wie eine Entführung aussah. Heute vor zehn Jahren, am 27. September 2002, verschwand der elfjährige Jakob von Metzler, ein Bankiersohn. Sein Mörder, der damals 27-jährige Jurastudent Magnus Gäfgen, der den Jungen flüchtig kannte, hatte ihn auf dem Heimweg von der Schule abgepasst, in seine Wohnung gelockt – und dort sogleich mit Plastiksäcken und Klebeband erstickt. Trotzdem forderte Gäfgen von den Eltern 1 Million Euro Lösegeld, die er an einer Straßenbahnhaltestelle abholte. Gäfgen war pleite und wollte mit dem Geld seiner 16-jährigen Freundin imponieren.

Die Polizei beschattete Gäfgen, um so den Aufenthaltsort des vermeintlich entführten Kindes herauszufinden. Doch statt sich um Jakob zu kümmern, buchte Gäfgen eine Ferienreise nach Fuerteventura mit seiner Freundin. Am Frankfurter Flughafen wurde der Student dann verhaftet, drei Tage nach der Entführung.

Bei den Vernehmungen führte Gäfgen die Polizisten permanent an der Nase herum. Er habe nichts mit der Entführung zu tun, er habe nur das Geld geholt, er werde erpresst und könne nichts sagen. Dann behauptete er, Jakob lebe und werde von zwei Komplizen in einer Hütte an einem See bewacht. Die angeblichen Mittäter erwiesen sich jedoch als völlig unschuldig, die Hütte war leer.

In dieser Situation extremer Anspannung fasste der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner einen dramatischen Beschluss. Er ordnete an, dass Gäfgen Schmerzen angedroht und notfalls zugefügt werden sollen, damit er den Aufenthaltsort des vermeintlich noch lebenden Kindes nennt. Hauptkommissar Ortwin Ennigkeit sollte Gäfgen die Maßnahme ankündigen. Ein Polizist mit Kampfsporterfahrung wurde angefordert, eine Videokamera sollte den Vorgang aufzeichnen, der Polizeiarzt sollte die Folter überwachen.

Doch der Plan musste nicht umgesetzt werden. Schon ein erster Kontakt mit Ennigkeit genügte, um Gäfgen zum Reden zu bringen. Gäfgen gab zu, dass er den Jungen ermordet hatte, und führte die Beamten zur Leiche.

Daschner galt nun als tragischer Held. Das Verständnis für seine Vorgehensweise war groß. Auch unter Juristen fiel die Einordnung des Falls zunächst schwer. Der Chef des Richterbunds erklärte, Folter könne zur Rettung höherwertiger Rechtsgüter in Ausnahmefällen erlaubt sein. Die damalige Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) hielt einen „rechtfertigenden Notstand“ für denkbar.

Es dauerte einige Tage, bis allen klar war: Rechtlich kann es keine Ausnahmen vom Folterverbot geben. Folter ist völkerrechtlich ebenso ausnahmslos verboten wie im Grundgesetz, in der Strafprozessordnung und im Polizeigesetz. Die Menschenwürde ist der höchste Wert unserer Verfassung, und sie steht jedem Menschen zu, auch Verbrechern wie Gäfgen.

Daschner aber gab kernige Interviews – „Ich würde es wieder tun“ – und zeigte sich völlig uneinsichtig. Statt sich auf eine Gewissensentscheidung zu berufen, behauptete er, sein Handeln sei völlig legal. Er verstieg sich sogar zu der Aussage, er habe so handeln müssen, weil er sich sonst wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht hätte. Das war zwar ganz offensichtlich nicht richtig, die Aussagen zeigten aber, wie schnell es im Kopf eines Polizisten eine vermeintliche Pflicht zur Folter geben kann.

Anfang 2004 erhob die Staatsanwaltschaft nach langer Prüfung Anklage gegen Daschner und Ennigkeit. Jetzt kochte die gesellschaftliche Debatte erst richtig hoch. Wieder erklärten viele Politiker – von Wolfgang Bosbach (CDU) bis Oskar Lafontaine (damals noch SPD) –, dass sie Daschners Vorgehen richtig finden. Nach einer ZDF-Umfrage wünschten sich 69 Prozent der Deutschen einen Freispruch für Daschner.

Im Prozess wurde immerhin deutlich, dass die Frankfurter Ermittler Daschners Vorgehen damals fast durchweg ablehnten und hofften, auch mit konventionellen Methoden ans Ziel zu kommen. Die Folterdrohung sei keineswegs alternativlos gewesen.

Am Ende war das Frankfurter Landgericht äußerst milde. Es stellte zwar fest, dass die Drohung mit Gewalt rechtswidrig war. Doch die beiden Polizisten wurden nur verwarnt, Ennigkeit wegen Nötigung, Daschner wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat. Geldstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Beide verzichteten auf Rechtsmittel, um ihre Ruhe zu haben.

Doch fühlten sich Daschner und Ennigkeit schon durch die Verurteilung ungerecht behandelt. Daschner verlor zudem seinen Posten als Vizepräsident der Frankfurter Polizei und wurde auf einen anderen Posten versetzt, dort ein Jahr später allerdings befördert. Seit 2008 ist er im Ruhestand.

Ennigkeit schrieb jüngst ein Buch, „Um Leben und Tod“, mit seiner Version der Geschichte. Demnach habe Gäfgen die Tat gar nicht wegen der von ihm überbrachten Folterdrohung gestanden, sondern weil er ihn noch einmal ganz klassisch und intensiv befragt habe.

Immerhin konnte Magnus Gäfgen trotz der Folterdrohung im Juli 2003 wegen Mordes verurteilt werden. Er wiederholte sein Geständnis mehrfach, auch vor Gericht. Dies sei Ausdruck seiner Reue, sagte er. Das Landgericht Frankfurt verhängte lebenslange Haft und stellte eine „besonders schwere Schuld“ fest. Das heißt: Gäfgen kann nicht schon nach 15 Jahren Strafverbüßung auf Bewährung entlassen werden. Darauf hatte er nach seiner Kooperation aber gehofft.

Seitdem betont Gäfgen die Rolle als Folteropfer. Seine Geständnisse seien letztlich alle unfreiwillig gewesen. Nachdem er gezwungen wurde, die Polizei zur Leiche zu führen, habe er keine Chance mehr gehabt, die Tat zu leugnen. Dieses Argument wiesen seither aber alle Gerichte zurück, bis hin zum Bundesverfassungsgericht.

In der Zwischenzeit legte Gäfgen hinter Gittern sein erstes juristisches Staatsexamen ab, schrieb ein Buch über seine angebliche Läuterung („Allein mit Gott – der Weg zurück“) und versuchte eine Stiftung zugunsten von Verbrechensopfern zu gründen, was als peinliche Selbstinszenierung gesehen wurde.

Vor allem aber ging sein neuer Anwalt Michael Heuchemer in die Offensive und erzielte 2010 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Teilerfolg. Der Straßburger Gerichtshof stellte fest, dass Gäfgen durch die Folterdrohung unmenschlich behandelt worden war. Eine Verurteilung Deutschlands sei schon wegen der halbherzigen Strafe für Daschner erforderlich.

Viel anfangen kann Gäfgen damit aber nicht, denn der Gerichtshof hielt seine Verurteilung wegen Mordes nicht für unfair. Neue Versuche, eine Wiederaufnahme des Mordverfahrens zu erreichen, scheiterten bei der deutschen Justiz.

Am 10. Oktober treffen Gäfgen, Ennigkeit und Daschner am Oberlandesgericht Frankfurt wieder aufeinander. Von einem Duell zu sprechen ginge aber an der Sache vorbei. Die drei Männer kämpfen nicht miteinander, sie beharren nur fast schon autistisch auf ihrer jeweiligen Wahrheit.

Am klügsten wäre es, den Fall, der nur noch eine Projektionsfläche für wiedergekäute Diskussionen ist, zu ignorieren. Aber die Gesellschaft will die Debatte über das vermeintlich noch zu rettende Kind, den unerschrockenen Polizisten und die zweifelhafte Menschenwürde des Mörders immer wieder führen.