„Heute wird vieles mit der Waffe erledigt“

GEWALT Die höchste Mordrate in Südamerika und keine Strafverfolgung: Die Chávez-Regierung hat Kriminalität und Gewalt systematisch gefestigt

CARACAS taz | José María hat Glück. Sein Bus hält auf der Landstraße fast gegenüber dem Haus seiner Familie. Schnell über die Straße, die Tür geöffnet und hinein. „Nach acht Uhr solltest du hier nicht auf der Straße sein. Sie töten dich. Einfach so. Weil sie dir gerade das Handy geklaut haben oder weil du keines dabei hattest.“ In den letzten drei Monaten wurden 15 Jugendliche in seinem Viertel umgebracht. Bum, bum, bum, macht der 18-Jährige mit Daumen und Zeigefinger. Als er 14 war, wurde sein Freund erschossen.

José María wohnt in Barlovento, einem Armenviertel an der Stadtgrenze von Caracas. Was er erlebt, ist für die Bewohner der armen Viertel in und um die Hauptstadt Alltag. „Früher wurde vor allem an den Wochenenden geschossen und gemordet.“ Seit vier Jahren aber fast täglich. „Heute wird vieles mit der Waffe erledigt.“ Familienstreit, Eifersucht, kleine Diebstähle oder aus Lust am Morden. „Und alles straffrei“, sagt José María. Meist sind es Banden aus den Nachbarvierteln. Mal sind sie 20, mal 50, sagt José María. Kids und Jugendliche zwischen 11 und 24 Jahre alt. Nachts sind die Straßen in den Barrios leer. Aber auch im Haus ist niemand sicher. „Zwei Block weiter haben sie vor wenigen Wochen einen Alten erschossen, in seinem Sessel.“ Ab sechs Uhr morgens beginnt wieder das Leben, dann schlafen die jungen Killer.

Gewalt und Kriminalität ist kein neues Phänomen. Aber die Gewalt hat in den vergangenen zwanzig Jahren extrem zugenommen. 1990 wurden landesweit 4.500 Morde registriert, 2012 waren es 16.072 Morde. Damit kommen auf 100.000 Einwohner 55 Tötungen. In Kolumbien liegt die Rate trotz der bewaffneten Auseinandersetzungen bei 34 Tötungen pro 100.000 Einwohner.

Venezuela gilt weltweit als trauriger Beleg dafür, dass enorme Kriminalität nicht mit Armut zu erklären ist, sondern mit der Straflosigkeit. Es gibt kein funktionierendes Strafverfolgungssystem. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich eine Mafia aus Polizei, Anwälten und Richtern gebildet, die weniger an der Verfolgung der Täter als am Geschäft mit ihnen interessiert ist. Roberto Briceño, der Leiter des Observatorio Venezolano de Violencia (OVV), geht mit der Regierung hart ins Gericht. „Am Versagen der Regierung ist nicht zu deuteln.“

Chávez Stammwählerschaft habe jedoch nie Rechenschaft darüber verlangt. Das sei umso erstaunlicher, „da die sozial am stärksten benachteiligten Schichten genau jene sind, die auch am heftigsten unter der Kriminalität leiden“, sagt Briceño. „In 84 Prozent der Fälle ist das Mordopfer arm. 2010 wurde bei 91 von 100 Mordfällen niemand verhaftet“, so Briceño. Es herrsche eine fast komplette Straflosigkeit.

Im Sprachgebrauch der Regierung wurde das Ausmaß der Kriminalität lange als eine Fiktion der privaten Medien, als ein subjektives Gefühl der Unsicherheit abgetan. Kriminalität wurde mit Armut verbunden, als Teil des kapitalistischen Systems interpretiert. Noch hat sich Maduro nicht von dieser Vorstellung getrennt. Aber er hat versprochen, das Thema ganz nach vorn zu stellen. Zumindest ist das ein rhetorischer Unterschied zum Amtsvorgänger. Hugo Chávez hatte das Thema stets vermieden.

JÜRGEN VOGT