„Wir sind nicht Erdogans Polizei“

INNENLEBEN Ein Mitglied der kritischen Polizistenvereinigung „Gruppe Polizeireform“ zu Politik und Protest

taz: Können Sie sich ausweisen? Wir führen dieses Interview schriftlich, ich muss mich darauf verlassen, dass ich es wirklich mit Polizisten zu tun habe.

Gruppe Polizeireform: Wie es dem geht, der vom Dach gefallen ist, versteht nur der, der selbst vom Dach gefallen ist. Wenn wir keine Polizisten wären, wären wir nicht so gut über das Innenleben der Polizei informiert. Von vielen Vorfällen in der Polizei hat die türkische Öffentlichkeit zuerst von uns erfahren.

Ist Ihre Gruppe eine dieser „Banden“ in der Polizei, von denen Ministerpräsident Erdogan spricht? Immerhin ist Ihre Vereinigung illegal.

Richtig, nach dem Putsch von 1980 wurden alle Stiftungen, Vereine und Gewerkschaften in der Polizei verboten. Im Jahr 2009 haben wir angefangen, uns über soziale Netzwerke zu organisieren. Uns interessieren die Rechte und Probleme von Polizisten – nicht ihre Überzeugungen oder ihr Glauben. Trotz des Verbots haben wir 2012 eine Gewerkschaft gegründet. Elf Kollegen wurden daraufhin aus dem Dienst ausgeschlossen, gegen 250 laufen Ermittlungen. Die Sache liegt beim Verfassungsgericht. Wir sind keine Bande, wir wollen unsere Stimme auf eine legale und transparente Weise erheben. Aber solange es diese Hürden gibt, können wir unsere Namen nicht öffentlich nennen.

Hat Erdogan recht, dass die Korruptionsermittlungen Werk einer „Bande“ in der Polizei sind?

Für den Korruptionsverdacht gibt es ernstzunehmende Beweise. Und wenn es eine solche „Bande“ gibt, dann muss das vor Gericht aufgearbeitet werden. Hunderte Beamte im ganzen Land pauschal zu suspendieren oder zu versetzen, ist rechtswidrig.

Es heißt, in der Polizei gibt es ein Netzwerk, das unter dem Kommando der Gülen-Gemeinde steht und für diese Ermittlungen verantwortlich ist.

Bislang fehlen die Beweise dafür. Natürlich können Beamte bestimmte Überzeugungen oder einen Glauben haben oder einer bestimmten Gruppe nahe stehen. Aber das Zugehörigkeitsgefühl muss im gesetzlichen Rahmen bleiben. Andererseits gab es vorher schon Hinweise, dass in der Polizei bestimmte Gruppen bedient werden, bei Aufnahmeprüfungen zum Beispiel. Aber das wurde nie untersucht. Wir hoffen, das passiert jetzt.

Die Polizei wurde während der Gezi-Proteste kritisiert, unverhältnismäßige Gewalt angewandt zu haben. Zu Recht?

Es gab rechtswidrige Befehle, und es gab, leider, rechtswidrige Handlungen von Polizisten. Die Demonstranten wurden als innere Feinde dargestellt. Zugleich wurden viele Polizeibeamte in einer menschenrechtswidrigen Weise eingesetzt. Beides hat dazu beigetragen, dass die Verhältnismäßigkeit aus den Augen verloren wurde. Aber die Proteste sind aus dem Ruder gelaufen. Illegale Gruppen haben sich eingemischt, die ganz vorne mitgewirkt haben.

Polizisten entgegnen auf Kritik oft, sie seien nur Befehlsempfänger. Ist man als Polizist nicht auch seinem Gewissen verpflichtet?

Das Polizeigesetz von 1934 definiert 13 Fälle, in denen ein Untergebener einen Befehl unverzüglich zu befolgen hat, selbst wenn er ihn für ungesetzlich hält. Dazu gehören illegale Versammlungen. Das muss man ändern oder aufhören, die Polizei zu kritisieren. Denn mehr als der Innenminister, der Gouverneur oder der Polizeipräsident wurden die Polizisten kritisiert. Ansonsten haben wir immer gesagt: Wenn mit Tränengaspatronen auf Köpfe gezielt oder auf handlungsunfähige Personen eingeschlagen wird, müssen alle verfolgt werden – diejenigen, die den Befehl dazu erteilen, und diejenigen, die ihn ausführen.

Wissen Sie von Einsatzkräften, die mit den Befehlen nicht einverstanden waren?

Ja. Aber die meisten waren sehr jung, viele von ihnen Polizeianwärter ohne jedes Recht auf Widerspruch. Damals hat der Ministerpräsident gesagt: „Das ist meine Polizei.“ Jetzt spricht er von „Banden“ und „Parallelstaat“. Dabei ist die Polizei dieselbe. Wir kämpfen nicht dafür, irgendjemandes Polizei zu sein, sondern die Polizei des Volkes.

Sie sind nicht Erdogans Polizei?

So etwas gibt es in einer Demokratie nicht. INTERVIEW: DENIZ YÜCEL