Das Selbstfindungsseminar

PARTEITAG Nächste Runde im Wundenlecken und Fehlersuchen bei den Grünen: Auf dem kleinen Parteitag taten sich Gräben auf

Es ist Kretschmanns Generalabrechnung mit dem Wahlkampf, den er von Anfang an für falsch hielt

AUS BERLIN ULRICH SCHULTE

Winfried Kretschmann verfügt über einen großen Fundus philosophischer Zitate, die er sehr bewusst einzusetzen weiß. Dieses Mal bringt er das Orakel von Delphi, die griechische Weissagungsstätte also, in der Orientierungslose schon in der Antike Rat suchten. Am Eingang sollen Inschriften gestanden haben, die Kretschmann geeignet scheinen, seine Partei auf einen neuen Kurs einzuschwören. Auf seinen Kurs. „Erkenne dich selbst“ und „Nichts im Übermaß“.

Die Grünen seien in erster Linie dafür da, die Ökologisierung der Gesellschaft, des Verkehrs, der Wirtschaft durchzusetzen, beginnt Kretschmann in den Berliner Uferhallen. Eilig drängeln sich hinten die letzten Delegierten des Kleinen Parteitags durch den Eingang, Kretschmanns Rede ist ein Höhepunkt der Aufarbeitung vom Wahldebakel am Samstag.

Vorn am Rednerpult liest ihnen das Orakel von Stuttgart die Leviten. Die Grünen stünden mit diesem Projekt nicht mehr am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte, donnert Kretschmann. So viel zur Selbsterkenntnis. Nun zum Maß halten: Für die ökologische Transformation der Wirtschaft brauche man Unternehmen als Partner, nicht als Gegner. Der Fokus auf Steuererhöhungen habe die klassischen Lager mobilisiert, wettert er. „Zu viel ist halt zu viel!“

Es ist Kretschmanns Generalabrechnung mit dem Wahlkampf der Bundespartei, den er von Anfang an für falsch hielt. Und mit dessen Hauptfigur. „Darum, lieber Jürgen“, ruft Kretschmann dem Mann zu, der in der ersten Reihe heftig mit dem Kopf schüttelt, „darum darf das Hauptwort nicht mehr ‚Angriff‘ sein“. Jürgen Trittin, heißt das, der künftig ein einfacher Abgeordneter ist, habe mit seinem Konfrontationskurs nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die bürgerliche Mitte verprellt.

Mit dem Gestus Trittins, der im Moment für alles Mögliche herhalten muss, sind viele unzufrieden. Schleswig-Holsteins Energiewendeminister Robert Habeck drückt das so aus: „Dieses ‚Wir gegen die‘ ist nicht mehr zeitgemäß.“ (siehe Interview) Bleibt nur die Frage, wie das neue „Wir sind alle“ denn nun aussehen soll. Zwar bemühten sich die Grünen am Wochenende um einen erwachsenen Auftritt, doch im Grunde sind sie eine tief verunsicherte Partei. Der Länderrat war auch der Beginn eines kollektiven Selbstfindungsseminars mit offenem Ausgang. Mehr Wirtschaft und Öko, weniger Soziales? Wo genau ist eigentlich die Mitte? Und wer verkörpert die neuen Grünen? Das sind einige der Fragen; es deuteten sich Antworten an, aber auch Gräben.

Trittin scheint aber mit sich im Reinen. In aller Ruhe trägt er den Delegierten seine Lesart vor von dem, was schiefging. Er räumt ein, dass die Partei den Widerstand unterschätzt habe. Er wiederholt, dass alle sich hinter das Finanzkonzept gestellt hätten. Als „Bruch in der Geschichte“ des Wahlkampfs sieht Trittin aber, dass die Grünen als Verbotspartei hingestellt wurden.

Trittin lässt sich nicht beirren, auch nicht, als Boris Palmer, Tübingens Oberbürgermeister, dazwischen brüllt: „Das war Klassenkampf!“ Kretschmann und Palmer sind nicht die Einzigen, die richtig wütend sind. An den Stehtischen auf dem Hof zischen führende Grüne aus Baden-Württemberg noch ganz andere Beschreibungen Trittins.

Nun sei dahin gestellt, ob die marxistische Theorie den Grünen-Wahlkampf tatsächlich angemessen beschreiben. Sicher ist aber, dass Trittins Rede taktische Zwecke im Klassenkampf der Parteiflügel erfüllte. Er gab den Blitzableiter, zog den Zorn der Enttäuschten auf sich und schlug einen Pflock im anstehenden Streit über das Programm ein: „Es war nicht zu links.“

Mehr Kretschmann, weniger Bund. Ein wichtiges Gefecht der grünen Zukunft ist hier noch nicht entschieden. Nämlich die Frage, welche Frau künftig die Fraktion leitet. Kerstin Andreae, Wirtschaftspolitikerin aus Baden-Württemberg, genießt Kretschmanns Wohlwollen. Ihre Wirtschaftskompetenz, heißt es in seinem Umfeld, sei im Moment sehr nötig. Und es wäre für den Ministerpräsidenten wohl auch eine schöne Achse zwischen Bundesrat und Fraktion.

Andreae kann in dem Duell mit Exspitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt einen Punktsieg verbuchen. Rund 200 Vertreter des Realo-Flügels trafen sich am Freitagabend in Baden-Württembergs Ländervertretung, beide Anwärterinnen warben in Reden für sich. Der Applaus, sagen Teilnehmer, sei für Andreae klar stärker gewesen.

Allerdings heißt das nicht viel. Göring-Eckardt verschränkt in einer Ecke der Halle die Arme, sie redet leise, aber sehr bestimmt. „Ich werde mich auf jeden Fall in der Fraktion zur Wahl stellen.“ Im Klartext: Das Applausometer eines Flügeltreffens ist mir schnuppe. Sie hat ein gutes Argument, denn die Fraktion ist das demokratische Gremium. Am Montag geht das Duell in eine neue Runde, dann treffen sich die Realos der Fraktion.