„Völkermord verjährt nicht. Früher oder später finden wir sie“

AUFARBEITUNG Ruandas Justiz arbeitet auf Hochtouren, um über den Genozid zu richten und weltweit die letzten flüchtigen Haupttäter aufzuspüren

KIGALI taz | Im Obersten Gerichtshof in Kigali herrscht Hochbetrieb. Alle acht Gerichtssäle des neuen Gebäudes hinter dem Justizministerium der ruandischen Hauptstadt sind von morgens bis abends ausgebucht. Anwälte und Richter in schwarzen Roben hasten hin und her, Gefangene in flamingofarbenen Häftlingskitteln werden von Gefängniswärtern in die Gerichtssäle geführt, auf die Anklagebank gesetzt.

Ruanda ist auch 20 Jahre nach dem Völkermord an bis zu einer Million Tutsi noch immer damit beschäftigt, die Täter zu suchen, zu verhaften, vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Es ist die größte juristische Aufarbeitung, die die Welt je gesehen hat. Eine enorme Herausforderung.

Über 1,2 Millionen Verfahren wurden von 2004 bis 2012 vor den traditionellen Dorfgerichten, den Gacaca, abgewickelt, eine international umstrittene Methode. „Gacaca“ bedeutet „Grasfeld“, also die Wiese im Schatten eines Baumes, auf der die Dorfgemeinschaft traditionell zusammenkam, um Probleme zu lösen. Um die juristische Aufarbeitung des Genozids zu beschleunigen, wurden diese Laiengerichte neu aufgelegt und damit beauftragt, die einfachen Täter und Mitläufer zu verurteilen.

Es gab viel Kritik: Manche Laienrichter waren anfällig für Korruption, manche Angeklagte willkürlichen Beschuldigungen durch ihre Dorfgemeinschaft ausgesetzt, manche Überlebende des Genozids hatten Racheangriffe zu erwarten, wenn sie aussagten. Doch ohne Gacaca hätte die Aufarbeitung des Massenschlachtens über 100 Jahre gedauert. Zuvor wurden in 10 Jahren nur etwa 10.000 Verdächtige verurteilt oder freigesprochen.

Im Jahr 2010 wurden die Gacaca-Akten geschlossen, die noch übrigen Verfahren an ordentliche Gerichte in Ruanda übergeben. Auch das Ruanda-Tribunal der UNO, der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) im tansanischen Arusha, wickelt jetzt die letzten Verfahren ab. Zuständig für die Haupttäter, Planer und Befehlsgeber des Völkermordes, überstellt das ICTR jetzt die noch nicht verurteilten Angeklagten nach Ruanda, damit ihnen in ihrer Heimat der Prozess gemacht wird.

Jean-Bosco Uwinkindi war 2012 der erste Angeklagte, den der ICTR nach Ruanda überstellte. Dem einstigen evangelischen Pfarrer in Bugesera im Südosten des Landes wird seit vergangenem Januar in Kigali der Prozess wegen Völkermordes gemacht. „Ein Meilenstein und ein Beweis für das Vertrauen in unser Justizsystem“, sagt Jean Bosco Siboyintore, Chef einer speziellen Ermittlereinheit der ruandischen Staatsanwaltschaft, die bis heute weiter nach Verdächtigen sucht. Und das weltweit.

Noch immer sind einige der vom ICTR mit Haftbefehl gesuchten Chefplaner irgendwo auf der Welt auf freiem Fuß. Und vor Ruandas Gacaca-Gerichten wurden rund 70.000 Angeklagte in Abwesenheit verurteilt, weil sie geflohen waren. Bis heute sucht Siboyintores Einheit nach diesen Tätern: in Afrika, aber auch in Europa, auch in Deutschland. „Völkermord verjährt als Verbrechen nicht und sie sind nicht auf einem anderen Planeten. Früher oder später finden wir sie“, sagt Siboyintore.

Der junge Staatsanwalt sitzt in einem kleinen Büro unweit der Gerichtsgebäude. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen Poster von Interpol mit Porträts der Flüchtigen. Sie ausfindig zu machen sei kompliziert, sagt er. Oft lebten sie unter falschem Namen, mit verfälschter Geschichte als anerkannte Flüchtlinge im Exil. Um ihre Identität und ihren konkreten Aufenthaltsort zu bestimmen, sei Ruanda auf Rechtshilfe der Exilländer angewiesen.

Siboyintore ist viel unterwegs: Stuttgart, Paris, Oslo, Brüssel, Kopenhagen. 188 Verdächtige hat er in 30 Ländern ausfindig gemacht. „Wir bevorzugen die Auslieferung der Gesuchten, doch wenn dies nicht geht, dann verlangen wir, dass sie in ihren Exilländern vor Gericht gestellt werden.“ SIMONE SCHLINDWEIN