Sie können es sich nicht leisten

WELT Die Zahl der Hungernden sinkt – aber immer noch haben über 800 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Ist mehr Agrarchemie die Lösung?

BERLIN taz | Zum Welternährungstag am Donnerstag endlich mal eine gute Nachricht: Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, ist stark gefallen. Nach Schätzungen der UN-Agrar- und -Ernährungsorganisation FAO sind es heute 209 Millionen weniger als noch Anfang der neunziger Jahre. Auch der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung nahm ab: von 18,7 auf 11,3 Prozent.

Aber: Immer noch haben 805 Millionen Menschen zu wenig zu essen, um gesund und aktiv zu leben.

Die FAO-Zahlen sind allerdings umstritten. Die Organisation errechnet sie aus dem Kalorienbedarf und den verfügbaren Kalorien in den jeweiligen Ländern. Der Menschenrechtsverband Fian etwa bemängelt, dass der Kalorienverbrauch sehr niedrig angesetzt sei und einem „bewegungsarmen Lebensstil“ entspreche – was gerade bei Armen selten der Fall sei. Doch selbst Fian-Agrarreferent Roman Herre bestreitet auf taz-Nachfrage nicht, dass heute weniger Menschen hungern.

Auch nach den FAO-Zahlen hungert immer noch jeder neunte Mensch. In Afrika ist die absolute Zahl der Betroffenen sogar um fast ein Viertel auf 226,7 Millionen gestiegen, das sind 20,5 Prozent der Bevölkerung.

Deshalb wird weiter darum gestritten, wie der Hunger gelindert werden kann. Dass dafür mehr Wohlstand nötig ist, darüber sind sich so gut wie alle Experten einig. Aber wie wichtig ist es, mehr Lebensmittel zu produzieren? Und wie ist das zu erreichen? Viele konservative Politiker propagieren größere Ernten als das wichtigste Mittel im Kampf gegen den Hunger. Für Agrochemiekonzerne wie Monsanto ist klar: Am meisten könnten etwa afrikanische Länder ernten, wenn sie ihr Hochleistungssaatgut und Pestizide auf großen Farmen einsetzen.

Marita Wiggerthale, Welternährungsreferentin der Entwicklungsorganisation Oxfam, hält dagegen: „Die Intensivierung der Produktion mit Hilfe von Chemie spielt keine große Rolle.“ Hunger entstehe nicht in erster Linie, weil zu wenig Lebensmittel produziert würden – sondern weil die Armen sie sich nicht leisten könnten. Wiggerthale befürchtet, dass Agrarchemikalien die Umwelt schädigten, Kleinbauern abhängig von den Konzernen würden und Einheimische für große Farmen von ihrem Land vertrieben würden.

Die meisten deutschen Entwicklungsorganisationen plädieren für agrarökologische Anbauverfahren, die – wenn überhaupt – nur sehr wenig Chemikalien benötigen. „Dazu gehört zum Beispiel der Mischanbau, bei dem etwa Bohnen zwischen Mais wachsen, was den Düngerbedarf reduziert“, sagt die Oxfam-Expertin. Solche Projekte müssten die Industriestaaten stärker fördern.

Berlin marschiert jedoch oft in entgegengesetzte Richtung: Im Rahmen der Initiative German Food Partnership unterstützt das Entwicklungsministerium etwa den Chemiekonzern BASF. Der warb laut Oxfam in einer thailändischen Reality-TV-Show für Ertragssteigerungen durch Pestizide – unter dem Deckmäntelchen der Aufklärung für eine sichere Anwendung der Chemikalien. JOST MAURIN