Die Schreihälse von El Alto

„Es ist mein eigenes Geld“, sagt Brian stolz. Er spart für einen Computer. Der 13-Jährige lockt Fahrgäste zu den Kleinbussen von El Alto – ein typischer Job. Die Rechte der Kinderarbeiter sollen nun verbessert werden

■ Die Kinderarbeit: 13 Millionen Kinder arbeiten in Lateinamerika und der Karibik so schätzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). In Bolivien, eines der ärmsten Länder der Region, wird die Zahl der Kinderarbeiter vom Arbeitsministerium auf rund 850.000 geschätzt. Demnach arbeitet jedes vierte Kind in Bolivien. Allerdings nicht rund um die Uhr, denn viele helfen nach der Schule den Eltern in der Landwirtschaft oder im eigenen Geschäft, andere arbeiten ein oder zwei Tage die Woche auf dem Markt.

■ Das Gesetz: Das neue Kinder- und Jugendgesetz sieht mehr Rechte für die Kinder und mehr Pflichten für die staatlichen Institutionen vor. Die müssen die Fortschritte beim Jugendarbeitsschutz wie zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot oder die maximal 40 Stunden Arbeit pro Woche durchsetzen, aber auch Sozialprogramme auflegen, um die Ausbildungsmöglichkeiten zu verbessern. Beim Mindestlohn orientiert sich das Gesetz hingegen an den Vorgaben für die Erwachsenen – jeder jugendliche Arbeiter hat das Recht, Mindestlohn einzufordern. Aus Sicht der arbeitenden Kinder und Jugendlichen, die wenig von der statischen ILO-Konvention halten, sind das Fortschritte.

■ Die Konsequenz: Allerdings droht mit der UN-Organisation nicht nur Ärger, sondern auch das Ende der Zuschüsse für das bolivianische Arbeitsministerium. Das wurde in der Vergangenheit mehrfach finanziell unterstützt.

AUS EL ALTO KNUT HENKEL

„Alístense su paisaje, sueltito no más“, ruft ein Halbwüchsiger, deutet auf einen Kleinbus mit dem Fahrziel La Paz und winkt potentiellen Passagieren zu. Beeilen sollen sie sich, einsteigen und Kleingeld für den Fahrpreis bereithalten – alle paar Sekunden ist dieser Satz an der Plaza Ballivián zu hören. Der ovale, von bunten Backsteinbauten gesäumte Platz wird von der Bronzestatue einer traditionell gekleideten Indiofrau, La Cholita, dominiert, die fahnenschwenkend auf einer Weltkugel balanciert. Ein paar Meter dahinter starten die weiße Minibusse im Minutentakt in die vierzehn Stadtteile von El Alto und in das siebenhundert Meter tiefer liegende La Paz. Die Verwaltungsmetropole Boliviens quetscht sich in ein enges Tal, über das man von der Plaza Ballivián einen prächtigen Blick hat.

Für den hat Brian Chipane im Moment keinen Sinn. Der 13-Jährige ist Voceador in El Alto, das auf 4.100 Meter Höhe liegt. Voceador – so werden die Schreihälse in Bolivien genannt, die an den Bushaltestellen Fahrgäste anlocken. Seit einem halben Jahr ist der Junge mit den Pausbacken und dem ausgeblichenen Sonnenhut an der Plaza Ballivián dabei. Rund zwei Dutzend weitere Jungs und ein paar Halbwüchsige sorgen hier im Auftrag der Busbetreiber für Kundschaft.

Einigkeit macht stark

„Ein typischer Kinderjob in El Alto“, erklärt Alfredo Rubén Tarqui. Der junge Mann mit dem schmalen Gesicht, schwarzen Ohrsteckern und buschigem schwarzen Haar hat jahrelang das gleiche gemacht. Dann hat er den Job gewechselt. Doch eine ganze Reihe der Voceadores kennen Alfredo noch gut. Denn er bringt ihnen bei, wie sie sich wehren können, wenn sie sich einig sind. Er sagt ihnen, dass sie den Lohn aushandeln können und dass es sich lohnt, gemeinsam zu agieren.

Bis Dezember war Alfredo der Sprecher der Kindergewerkschaft Connatsdea von El Alto, hat die minderjährigen Arbeiter nach Berufen organisiert und ihnen erklärt, wie sie sich nicht um ihren Lohn prellen lassen. Als Vertreter von El Alto, der mit 1,2 Millionen Einwohnern nach Santa Cruz zweitgrößten Stadt Boliviens, hat er auch den Marsch der Kinderarbeiter vom 18. Dezember in La Paz mit organisiert.

Zur selben Zeit debattierte das bolivianische Parlament über ein neues Kinder- und Jugendgesetz. „Ohne uns!“, ereifert sich Alfredo. „Das geht gar nicht. Wir wollen gehört werden, und wir wollen, dass man uns ernst nimmt.“

Bereits mit acht Jahren hat er angefangen, Geld zu verdienen. Als der Vater stirbt, muss er einspringen, weil seine behinderte Mutter nicht in der Lage ist, die siebenköpfige Familie zu ernähren. Alle Kinder der Familie müssen arbeiten gehen, auch Alfredo, der Jüngste der Familie Tarqui. Wie Brian fängt Alfredo als Voceador an. Nach vier Jahren, im Alter von zwölf, wechselt er als Handlanger auf den Bau.

Doch der Job ist zu hart für den eher schmächtigen Jungen und als er auch noch um sein Geld geprellt wird, hat er die Nase voll. Heute arbeitet er als Clown. An den Ampeln der großen Kreuzungen führt er Kunststücke auf und dreht aus bunten Luftballons kunstvolle Tierfiguren. Vor allem Familienväter lassen gern ein paar Bolivianos für ihn springen. Das funktioniert ganz gut, aber noch einträglicher sind die Kindergeburtstage, wo er bis zu 160 Bolivianos, knapp 17 Euro, für zwei Stunden Einsatz verdient. Gutes Geld im Vergleich zu den sechzig Bolivianos, die Brian Chipane an einem guten Arbeitstag in sechs bis acht Stunden an der Bushaltestelle verdient.

„Aber es ist mein eigenes Geld“, sagt der junge Voceador. „Davon bezahle ich meine Klamotten und auch meine Schulsachen.“ Diese Unabhängigkeit gefällt ihm, und Brians Eltern legen Wert darauf, dass ihr Sprössling lernt, wie schwer das Geldverdienen ist. Sie betreiben in El Alto, wo es viele ambulante Händler gibt, ein kleines Geschäft.

Das liegt nur ein paar Steinwürfe von der Plaza Ballivián entfernt. Rund um den Platz und auf dem Markt des 16. Julio gibt es viele Jobs für Kinder und Jugendliche. „Als mobile Verkäufer von Süßigkeiten, Zigaretten oder Eis, als Hilfskräfte an den Marktständen, als Schuhputzer oder Zeitungsverkäufer arbeiten wir“, berichtet Alfredo. Er zählt sich immer noch dazu, auch wenn er inzwischen volljährig ist.

Im Alter von 13 Jahren nimmt ihn ein Freund zu einem Treffen der Kinder- und Jugendarbeiter mit. „Ich wollte mir nicht mehr alles gefallen lassen“, erklärt er. Bei diesen Treffen hat er gelernt, für andere einzutreten.

30.000 Kinderarbeiter gibt es den Schätzungen des bolivianischen Arbeitsministeriums zufolge in El Alto, landesweit sollen es 850.000 sein. Manche jobben nur ein paar Stunden pro Woche, andere deutlich mehr. Das ist nicht mit den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Mindestalter für Kinderarbeit vereinbar. Die Konvention 138 lehnt Kinderarbeit für Kinder unter 15 Jahren ab.

Doch Bolivien will nun einen Sonderweg beschreiten. „Wir stehen kurz vor dem Durchbruch“, sagt Alfredo. Von den Abgeordneten des Parlaments seien sie empfangen worden und kurz vor Weihnachten auch von Evo Morales persönlich – Alfredos Stimme klingt plötzlich belegt. Dem Präsidenten gegenüberzustehen ist auch für ihn etwas Besonderes. Obwohl Alfredo mit dem achtzehnten Geburtstag seinen Status als Delegierter der Unatsbo, so heißt die Dachorganisation der Kindergewerkschaft, verloren hat, fiebert er mit.

Kinderarbeit und Bildung

Das geht auch seinem Vorgänger so. Deivid Pacosillo Mamanir hat Pädagogik studiert, arbeitet heute für eine Hilfsorganisation und berät die Unatsbo ehrenamtlich. Seinem Beispiel will Alfredo folgen. Er hat sich an der Universität El Alto zum Erzieher eingeschrieben. „Durch die Gewerkschaftsarbeit habe ich erst begriffen, wie wichtig die Schule ist.“ Die beiden sind gute, wenn auch nicht allzu typische Beispiele dafür, dass Arbeit und Ausbildung vereinbar sind.

Das ist ein Kernargument der Kinderarbeiter. Dem hat sich auch Präsident Evo Morales angeschlossen, selbst einst Kinderarbeiter auf dem Kokafeld seiner Eltern. Für Morales ist die Arbeit Minderjähriger „Teil der Kultur“, weil viele Familien auf die Einnahmen der Kinder angewiesen sind. Dagegen gibt es kaum Widerspruch und dieser Gedanke ist seit 2008 auch in Boliviens Verfassung festgeschrieben. Die verbietet zwar die Ausbeutung der Kinder, nicht aber die Arbeit von Kindern.

Nun soll auch das nationale Gesetz in diesem Punkt geändert werden und dafür haben die Kinderarbeiter zahlreiche Vorschläge gemacht, erzählt Alfredo. So soll das im ersten Gesetzentwurf stehende Verbot der Kinderarbeit unter vierzehn Jahren gekippt werden. Auch bei Kindern unter zwölf müsse genau geprüft wird, ob die Arbeit vertretbar sei. „Als Clown oder Schauspieler schuftet man nicht so schwer“, sagt Alfredo und grinst.

Ausbeutung und schwere Arbeit wie im Bergbau oder bei der Zuckerrohrernte sollen hingegen verboten werden. Dies ist bereits in der Verfassung fixiert. Nun muss es ins Gesetz überführt werden. Es ist ein Kompromiss, der im Parlament debattiert wurde und nun den Segen des Präsidenten erhalten soll. In Genf bei der Internationalen Arbeitsorganisation könnte das auf wenig Begeisterung stoßen und ein Ende finanzieller Hilfen bewirken.

Voceador Brian Chipane sieht das neue Gesetz positiv. „Ich hätte dann Rechte und bekäme einen verbindlichen Vertrag“, sagt der Junge mit dem himmelblauen Fußballtrikot. Für ihn ist der Arbeitstag vorbei. Es ist drei Uhr und gemächlich schlendert er über die Plaza Ballivián nach Hause. Um fünf beginnt der Unterricht in der katholischen Don-Bosco-Schule, und da will Brian fit sein. Darauf legen nicht nur seine Eltern wert, sondern auch der 13-jährige. „Ich will IT-Techniker werden und deshalb spare ich für meinen ersten Computer“, sagt er und nimmt seinen Schlapphut ab. Die Sonne ist gerade hinter einer der Wolken verschwunden, die über der Bronzefigur der Cholita hängen.