Verfassungsbruch mit Ansage

TARIFEINHEIT Andrea Nahles will Arbeitskämpfe erschweren. Kritiker schimpfen über die „Arroganz der Macht“

Mit dem Gesetz werde „die Axt an die Existenz kleiner Gewerkschaften gelegt“, sagt Willi Russ vom Deutschen Beamtenbund

VON PASCAL BEUCKER

BERLIN taz | Diplomatische Zurückhaltung gehört nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften von Claus Weselsky. Gleichwohl ist der Vorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) in der Regel darum bemüht, die Contenance zu wahren. Wenn es allerdings um das Tarifeinheitsgesetz geht, das an diesem Donnerstag in erster Lesung im Bundestag beraten wird, gelingt ihm das nicht. „Das ist ein Angriff auf unsere verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte“, schimpft Weselsky über die „Arroganz der Macht“. Besonders erregt ihn, dass das „unanständige“ Gesetzesvorhaben aus dem Arbeitsministerium von SPD-Frau Andrea Nahles kommt. Bislang sei es für ihn unvorstellbar gewesen, dass die SPD daran mitwirke, „Gewerkschaften zu eliminieren“, empört er sich. Das sei ein „Offenbarungseid der Sozialdemokratischen Partei“.

Mit dem jetzt in den Bundestag eingebrachten „Gesetz zur Tarifeinheit“ setzt die Große Koalition eine Vereinbarung ihres Koalitionsvertrags um. „Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken“, so haben es Union und SPD vereinbart, solle der „Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip“ gesetzlich festgeschrieben werden. Erklärtes Ziel des Gesetzes ist es, „die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern“ – und zwar nach dem Prinzip „The winner takes it all“.

Konkret heißt das: Falls zwei Gewerkschaften nicht inhaltsgleiche Tarifverträge mit der Arbeitgeberseite vereinbart haben, soll nur noch derjenige gültig sein, den die in dem jeweiligen Betrieb mitgliederstärkere Arbeitnehmervertretung abgeschlossen hat. Damit sollen Arbeitskämpfe konkurrierender Gewerkschaften im selben Konzern – wie etwa bei der Lufthansa oder der Deutschen Bahn – künftig verhindert werden.

Sollte das Gesetz in Kraft treten, werden Berufsgewerkschaften wie die GDL, die Pilotenvereinigung Cockpit, die Unabhängige Flugbegleiterorganisation (UFO) oder die Ärztevereinigung Marburger Bund künftig vom Wohlwollen der jeweils konkurrierenden DGB-Gewerkschaft abhängig sein. Ihnen bliebe nur die Alternative Unterordnung oder Untergang.

Mit dem Gesetz werde „die Axt an die Existenz kleiner Gewerkschaften gelegt“, sagt Willi Russ vom Deutschen Beamtenbund (dbb). Denn die Folgen wären für sie fatal: De facto wären die Nicht-DGB-Gewerkschaften in den meisten Unternehmen nicht mehr arbeitskampffähig. Der Grund: Nach gängiger Rechtsprechung muss das mit einem Streik verfolgte Ziel sowohl tariflich regelbar als auch tarifrechtlich zulässig sein. Eine kleinere Gewerkschaft könnte jedoch keinen eigenständigen Tarifvertrag mehr abschließen – und wäre daher chancenlos vor den Arbeitsgerichten. „Durch die Beschränkung des Streikrechts wird der Minderheitsgewerkschaft in der Konsequenz auch die Möglichkeit genommen, überhaupt einen Tarifvertrag zu erwirken“, konstatiert der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages.

In seinem auf Veranlassung der Grünen erstellten Gutachten, das der taz vorliegt, kommt der Wissenschaftliche Dienst zu einem eindeutigen Urteil: Da „der Abschluss von Tarifverträgen ebenso wie das Führen eines Arbeitskampfes als koalitionsmäßige Betätigung in den Schutzbereich dieses Freiheitrechts fallen“, stelle der vorgelegte Gesetzesentwurf einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die grundgesetzlich festgeschriebene kollektive Koalitionsfreiheit dar.

„Die Bundesregierung hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken, alle anderen aber schon“, spottet die Sprecherin für Arbeitnehmerrechte der grünen Bundestagsfraktion, Beate Müller-Gemmeke. Allerdings stimmten auch alle rot-grünen Landesregierungen Anfang Februar im Bundesrat dafür, keine Einwände gegen den Entwurf zu erheben. Nur Thüringen und Brandenburg, an denen die Linkspartei an der Regierung beteiligt ist, und das schwarz-grüne Hessen verweigerten die Zustimmung.

Im Bundestag wollen die Grünen wie die Linkspartei das Gesetz ablehnen. „Dieser geplante Verfassungsbruch lässt sich nicht mehr schönreden“, sagte der Vizevorsitzende der Linksfraktion, Klaus Ernst.

Ernst kritisiert aber auch die Mehrheit der DGB-Gewerkschaften, die sich verbandsegoistisch zusammen mit den Arbeitgeberverbänden für das Tarifeinheitsgesetz ausgesprochen haben. „Die Gewerkschaftsführer, die zu dem geplanten Vorhaben ihre Zustimmung signalisiert haben, müssen dies sofort korrigieren“, fordert der Linksparteiler. „Es wäre mehr als peinlich, wenn die Karlsruher Richter das Grundrecht auf Streik mehr verteidigen würden als einige Gewerkschaftsführer.“

Der Beamtenbund und die Spartengewerkschaften sind fest entschlossen, vor das Verfassungsgericht zu ziehen. „Wenn wir können, werden wir am Tag nach der Beschlussfassung Klage einreichen“, erklärte am Dienstag der Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke.