Benutzt wie eine Toilette

RECHT AUF FAULHEIT Ist Berlin zu billig, um relevante Kunst hervorzubringen? Zieht die angebliche Hauptstadt des Kreativen nur verbummelte Nichtstuer an?

AUS BERLIN THOMAS WINKLER

Sven Marquardt müsste sie eigentlich alle kennen. All diese Hänger, die Berlin bevölkern. Diese Möchtegernkünstler, die niemals einen ihrer vielen Pläne verwirklichen. Diese selbst erklärten Bohemians aus aller Welt, die die deutsche Hauptstadt als Oase des süßen Nichtstuns entdeckt haben. Glaubt man den Erfahrungsberichten, müssten die eigentlich alle jede Nacht in der Schlange vor dem Berghain warten, um von Sven Marquardt eingelassen zu werden.

Aber was sagt Berlins berühmtester Türsteher? Nein, dass diese Klientel vornehmlich vor dem bekanntesten Club der Stadt anstehen würde, das sei ihm noch nicht aufgefallen, sagt Marquardt in einem breiten Ostberliner Dialekt, dem auch ein Jahrzehnt als Schreckgespenst der Tanzwilligen nichts anhaben konnte. „Klar gab es schon immer viele Laberköpfe, gerade unter Zugezogenen“, sagt Marquardt weiter, „aber die sind nicht nur im Berghain, die besetzen doch mittlerweile ganze Stadtviertel. Und jeder zweite dreht Filme, macht Musik, malt Bilder oder modelt.“

Ein Vorurteil, mit dem sich viele, die neu nach Berlin kommen, auseinandersetzen müssen. Ein Vorurteil, das durch keine Zahlen oder Studien zu belegen, aber zumindest an steigenden Mietpreisen in eben noch uncoolen Vierteln abzulesen ist. Ein Vorurteil, das aber trotzdem heiß diskutiert wird, seit im vergangenen November in der New York Times Robert F. Coleman seine Berliner Erfahrungen veröffentlicht hat.

Das Leben ist zu leicht

Unter der Überschrift „In Berlin, You Never Have To Stop“ beschreibt der australische Rockmusiker, wie er mit seiner Band Citizen Sex aus Melbourne nach Berlin kam, um sich von der Stadt inspirieren zu lassen, möglichst viele Konzerte zu spielen und ein Album zu schreiben und aufzunehmen. Doch nach nur drei Monaten flüchteten Coleman und seine Kollegen schon wieder aus Berlin, keins ihrer Ziele hatten sie verwirklichen können. Statt kreativ zu arbeiten, waren sie den Verführungen der Partymetropole Berlin erlegen, die Coleman in seinem später auch im Berliner Tagesspiegel nachgedruckten Zeitzeugenbericht so beschreibt: „Das Bier war billiger als Mineralwasser, die Drogen mühelos zu beschaffen, die beste Tanzmusik der Welt an jedem beliebigen Wochentag in Reichweite.“

Die im Vergleich zu anderen großen Städten billigen Lebenshaltungskosten und die tolerante Atmosphäre, gerade diese Hauptanziehungspunkte der Stadt, die eigentlich ein kreatives Leben ermöglichen sollten, sorgten, so schrieb es zumindest Coleman, für das Versiegen seiner Kreativität. Berlin, stellte er fest, ist zwar tatsächlich wie versprochen, „arm, aber sexy“. In New York oder London müssen Künstler, Musiker, Autoren oder Filmemacher produktiv werden und ihre Kunst dann auch verkaufen, weil sie sich das Leben dort sonst nicht mehr leisten könnten. In Berlin dagegen kann man Monate vom Ersparten oder elterlichen Zuwendungen leben. „Ich begann mich betrogen zu fühlen“, schrieb Coleman, der mit dem dreiköpfigen Rest seiner Band in einer billigen Zweizimmerwohnung in Neukölln wohnte, „das Leben war zu leicht.“

Dass Coleman einen wunden Punkt getroffen hatte, bewies der folgende Aufschrei im Netz. Die einen schilderten ähnliche Erfahrungen in der Stadt, die anderen empfahlen dem Autoren, den Fehler doch bitte bei sich selbst zu suchen. Aber vor allen war mit den „kreativen Touristen“, wie Coleman selbst sie getauft hatte, die Frage in der Welt: Ist das vermeintlich vor Kreativität brummende Berlin in Wirklichkeit kontrakreativ? Ist die deutsche Hauptstadt zu billig, um relevante Kunst hervorzubringen, und zieht statt ernsthafter Künstler nur verbummelte Nichtstuer an? Ist Berlin nicht geil, sondern bloß faul?

„Ich sehe das ganz anders“, sagt Danny Berman. Dabei war er drauf und dran, ein ähnliches Schicksal wie Coleman zu erleiden. Der Schotte, der sich als DJ und Produzent Red’Rackem nennt, kam im März 2011 nach einer Trennung nach Berlin, „um hier alles hinter mir zu lassen“. Die ersten Monate lebte er wie Coleman und Tausende anderer: zog durch die Clubs, warf Pillen ein, tanzte tagelang, trank zu viel und schlief zu wenig. „Berlin macht es einem einfach, das ist schon wahr“, sagt Berman, „es ist billig, freundlich und drängt sich nicht auf. Ich wusste vorher gar nicht, wie schlecht ich in Großbritannien gelebt hatte. Mein Leben war plötzlich viel besser – und natürlich habe ich das erst einmal genossen.“

Aber nach einem Sommer voller Partys war er „irgendwann angeödet“. Nach Monaten in Berlin war der Musiker Red’Rackem, erinnert er sich, obwohl er regelmäßig auflegte und Tracks veröffentlichte, „vor allem berühmt für mein Talent zu feiern. Ich hatte eine großartige Zeit, aber ich hatte den Respekt für mein eigenes Handwerk verloren.“

Eine große Lüge?

Doch während Coleman kapitulierte und flüchtete, setzte Berman seine Erfahrungen in Kunst um. Er blieb bei den Partys nicht mehr bis zum Schluss, er begann Deutsch zu lernen und kümmerte sich wieder intensiver um die Musik. Das Ergebnis ist „The Damage is Done“, das er unter dem Namen Hot Coins, einem weiteren Pseudonym, unlängst herausgebracht hat. Auf dem Album, das von der Kritik sehr gelobt wird, verarbeitet Berman seine ersten, nur scheinbar verlorenen Monate im Berliner Wahnsinn mit kräftig rollenden Dance-Tracks, die konzentriert und kontrolliert den Takt fürs Nachtleben vorgeben. Colemans Artikel, sagt Berman, sei „eine interessante Momentaufnahme, und tatsächlich kann man in Berlin leicht verloren gehen. Aber ich habe Berlin sehr viel Kreativität zu verdanken.“

Genau darüber wird viel diskutiert. Colemans Erfahrungsbericht hat Spuren hinterlassen, manche aus der Berliner Boheme – und nicht nur die aus dem Ausland – würden, berichtet Berman, sich zumindest nach einer wieder mal durchzechten Nacht fragen, ob nicht auch sie womöglich der Lüge vom kreativen Berlin aufgesessen sind. Auch der ehemalige Smiths-Gitarrist Johnny Marr, der sein neues Album zum Teil an der Spree eingespielt hat, befand kürzlich in einem Interview, Berlin sei „eine Stadt, in die junge Menschen ziehen, um in Rente zu gehen“. Es war als Witz gemeint, aber zeigt, welches Bild mittlerweile unter Kreativen existiert. „Ich diskutiere immer wieder mit Kollegen und Bekannten über dieses Thema“, sagt Berman, „aber manche kommen hierher und benutzen die Stadt wie eine Toilette. Man kann Berlin nicht für das eigene Scheitern verantwortlich machen, das ist doch verrückt.“

So wollte Coleman auch gar nicht verstanden werden. Darauf legt er Wert, als er dann, nach kurzem Zögern, doch noch aus Australien antwortet per E-Mail. Niemals habe er Berlin „die Schuld geben wollen für die Fehler, die wir als Band begangen haben, aber dass wir ohne Album zurück nach Australien kamen, ist weitgehend auf die Ablenkungen und Partys zurückzuführen“.

Nein, die „gewaltige Resonanz“ auf seinen Artikel habe er nicht erwartet, antwortet Coleman, er habe „viele seltsame und oft aggressive E-Mails, Facebook-Nachrichten und Twitter-Antworten bekommen“, und obwohl die meisten Reaktionen positiv waren, sei er „weitgehend falsch verstanden“ worden. Besonders ärgert ihn der immer wieder geäußerte Vorwurf, er habe nicht einmal versucht die neue Sprache zu lernen: „Natürlich habe ich versucht, Deutsch zu lernen, alles andere wäre ignorant und unhöflich gewesen. Ich sprach nicht fließend, aber ich konnte Essen und Trinken bestellen.“

Und wieder Berlin

Zurück in der alten Heimat arbeiten „Citizen Sex“ nun wieder an ihrem Album, das noch in diesem Jahr aufgenommen werden soll. Ab April will die Band, die am Ende ihres Berliner Abenteuers auseinandergebrochen schien, auch wieder auftreten. „Ich denke immer noch, mein Artikel ist eine ziemlich akkurate Beschreibung unserer Generation und ihrer Erfahrungen in Berlin und Europa“, schrieb Coleman per E-Mail. Und dass er deshalb gerade ein Buch schreibt, in dem er diese Erfahrungen noch einmal ausführlicher festhalten wird. Beenden will er es im April während eines Kreativaufenthalts. In Berlin.