Viel Armut und ein Kalkül für den Euro

EURO-BEITRITT Europäische Zentralbank bescheinigt Estland, die formalen Kriterien für einen Währungsbeitritt zu erfüllen. Schweden will mit dem Beitritt lieber bis nach der Parlamentswahl warten

STOCKHOLM taz | Die schwer gebeutelte Euro-Zone könnte zum 1. Januar 2011 ein 17. Mitglied bekommen. Die EU-Kommission hat jetzt Estland auf Grundlage des in dieser Woche veröffentlichten Konvergenzberichts der Europäischen Zentralbank EZB grünes Licht geben. Klein, aber fein, meint Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn: „Estland hat einen hohen Grad an dauerhafter wirtschaftlicher Konvergenz erreicht.“ Und tatsächlich können andere Euro-Länder von einigen Wirtschaftskennzahlen des baltischen 1,3-Millionen-Einwohner-Landes nur träumen: Mit einem Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent und einer Staatsverschuldung von 9,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sind die Maastricht-Kriterien erfüllt.

Seit Jahren ist die in Tallinn geführte Wirtschaftspolitik auf die Einführung des Euro ausgerichtet. 2004 wurde die „Kroon“ an den „Wechselkursmechanismus II“ gebunden, der die Bandbreite festlegt, in der die einheimische Währung gegenüber dem Euro schwanken darf. Zusammen mit Slowenien wollte man eigentlich bereits 2007 die Gemeinschaftswährung einführen – scheiterte damals aber knapp an einer zu hohen Inflationsrate.

Aktuell hat man die im Griff, doch die EZB will den amtlichen Zahlen nicht so recht glauben. Sie warnt davor, dass die Inflation zusammen mit dem Wirtschaftsaufschwung wieder steil ansteigen könnte. Vor allem führte der massive Sparkurs, mit dem Tallinn das Haushaltsdefizit unter der magischen 3-Prozent-Maastricht-Grenze halten wollte, zu großen Einkommensverlusten. Die Löhne der öffentlich Angestellten wurden um 20 Prozent gesenkt, in der privaten Wirtschaft sanken sie um 8 Prozent. Ebbe im Geldbeutel stranguliert den Konsum. Das BIP des Landes schrumpfte 2009 um 14 Prozent, die Wirtschaftsleistung ist im 1. Quartal 2010 erneut um 2,3 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit schnellte auf 19,8 Prozent. Der Anteil der nach EU-Kriterien „Armen“ in der Bevölkerung stieg von 19 auf 26 Prozent. Die OECD warnte kürzlich vor einem weiteren Anstieg der Armut.

Estland ist das einzige der EU-Länder auf der Euro-Wartebank, denen die Kommission jetzt die „Euro-Reife“ attestiert hat. Schweden steht mit einem Haushaltsdefizit von 2 Prozent und einer Staatsverschuldung von 42,1 Prozent/BIP zwar ebenfalls gut da. Doch hat sich Stockholm nach dem negativen Ausgang der Euro-Volksabstimmung 2003 ganz absichtlich dem „Wechselkursmechanismus II“ nicht angeschlossen und lässt den Kurs der Krone frei pendeln. Daran wird sich bis mindestens 2015 nichts ändern, haben alle Parteien vor den Parlamentswahlen im September versprochen. Das Kalkül: Die Aussicht auf den Euro schreckt die WählerInnen derzeit eher ab. REINHARD WOLFF