Sigmar Gabriel über Artensterben: "Wir löschen die Daten der Natur"

Erst wusste Sigmar Gabriel mit dem Begriff Biodiversität nichts anzufangen. Jetzt erklärt er, warum Artenschutz wichtig ist und was die Bundesregierung dafür springen lässt.

"Eigentlich müsste man sich schon aus Respekt vor der Schöpfung Gottes für den Artenschutz einsetzen." Bild: dpa

taz: Herr Gabriel, Sie haben den Artenschutz zum neuen Schwerpunkt Ihrer Arbeit ernannt. Was haben Sie denn heute gerettet? Tier, Pflanze oder wenigstens eine Bakterie?

Bestimmt nichts dergleichen.

Schade eigentlich. Aber schon zu Ihrer Zeit als Ministerpräsident in Niedersachsen waren Sie ja nicht gerade als großer Naturschützer bekannt.

Da haben Sie ein falsches Bild von mir. Ursprünglich war der Umweltschutz sogar der Grund, dass ich in die Politik gegangen bin. Aber es stimmt schon: Als ich Ministerpräsident war, hatten für mich im Zweifel wirtschaftliche Projekte Vorrang, und ich habe auch mal Sachen gesagt wie: Stellt euch nicht so an mit eurem blöden Magerrasen. Oder: Macht eine neue Pfütze und setzt die Gelbbauch-Unke da rein.

Aber heute kämpfen Sie begeistert für die Kröten?

Ja. Zum einen haben wir mit unserem Naturschutzgesetz gute Möglichkeiten, Umweltschutz und wirtschaftliche Interessen in Einklang zu bringen. Zum anderen sehe ich inzwischen, dass wir den Brasilianern schwerlich verbieten können, den Regenwald zu nutzen, wenn wir zugleich bei uns immer der Wirtschaft Vorrang geben. Und wir können von den Afrikanern, die viel ärmer sind als wir, nicht verlangen, ihre Tierwelt zu schützen, wenn wir das selbst nicht hinkriegen.

Wir müssen Vorbild sein?

Vor allem dürfen wir nicht mit zweierlei Maß messen. Wenn wir den ersten Bären, der bei uns um die Ecke kommt, gleich erschießen, ist es schwer, anderen zu erklären, dass sie keine Elefanten umbringen sollen. Es geht aber auch darum, die geringe Artenvielfalt, die wir hierzulande noch haben, zu bewahren oder zurückholen - ganz unabhängig von anderen Ländern. Wir leben dann gesünder.

Es gibt 30 Millionen Tiere, Pflanzen und Bakterien. Warum ist es so schlimm, wenn eine Art verschwindet?

Weil wir nicht wissen, ob es exakt diese Art ist, die vielleicht das Überleben einer anderen erst möglich macht. Und weil wir nicht wissen, ob wir nicht genau dieses Bakterium, dieses Enzym, dieses Gen in ein paar Jahren für Medikamente oder neue Materialien brauchen werden.

Artenschutz also aus rein egoistischen Gründen?

Das ist nicht der schlechteste Antrieb. Bei einer wachsenden Weltbevölkerung werden wir in Zukunft noch stärker auf die Daten der Natur angewiesen sein. Artensterben bedeutet aber: Wir löschen die Daten der Natur unwiederbringlich von der Festplatte. Der Artenschwund ist ein genauso großes Problem wie der Klimawandel.

Das weiß nur kaum jemand. Als Sie im Ministerium zum ersten Mal von der "UN-Biodiversitätskonferenz" gehört haben, die im Mai in Bonn stattfindet, sollen Sie gefragt haben: "Worum gehts da und warum ist das wichtig?"

Stimmt. Wie rasant das Artensterben vor sich geht und welche Bedeutung das für uns hat - das war mir ebenso wie vielen anderen Menschen nicht klar.

Und wie soll sich das ändern? Es kann ja nicht jeder erst Minister werden.

Eigentlich müsste man sich schon aus Respekt vor der Schöpfung Gottes für den Artenschutz einsetzen. Oder weil man seinen Kindern eine intakte Erde hinterlassen will. Das reicht aber nicht als Motivation. Für den Klimawandel haben sich viele Menschen erst interessiert, als mit dem Stern-Report der wirtschaftliche Wert der Zerstörung bemessen und aufgezeigt wurde: Die Kosten des Klimaschutzes sind deutlich geringer als die Belastungen des ungebremsten Klimawandels. Nichtstun wird erheblich teurer, als wenn wir jetzt entschieden handeln.

Eine solche Rechnung fehlt beim Artenschutz noch.

Genau. Deshalb haben wir zusammen mit der EU eine umfangreiche Studie auf den Weg gebracht, die den ökonomischen Wert der Biodiversität ermittelt - und damit auch die volkswirtschaftlichen Kosten, die uns durch den Verlust drohen. Erste Ergebnisse sollen schon im Mai vorliegen. Nur so kommen wir weg vom Schadenssozialismus in der Umweltzerstörung, bei dem die Allgemeinheit den Preis zahlt - ob durch die Aufnahme von Flüchtlingen oder durch die Kosten von Bürgerkriegen ums Wasser.

Da wir beim Klima-Vergleich sind: Brauchen wir auch einen Al Gore der Biodiversität?

Sobald wir die wissenschaftlichen und ökonomischen Grundlagen haben, wird es sicher jemanden wie Al Gore geben, der auch dieses Thema popularisiert - so dass sich auch die Nordkurve dafür interessiert.

Der nächste Schritt ist dann, politisch zu handeln. Wird die Kanzlerin auch dieses Thema zur Chefsache machen?

Biodiversität ist ein Thema für die ganze Regierung. Angela Merkel wird die Konferenz jedenfalls eröffnen, und auch die Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit und der Bundespräsident werden teilnehmen.

Und was kann die Politik tun, um den Artenschwund zu stoppen?

Auch da ist der Klimaschutz ein gutes Vorbild. Mit den Emissionszertifikaten für Treibhausgase geben wir der Zerstörung oder Belastung der Umwelt einen Preis. Auch beim Artenschutz muss gelten: Wer vom Raubbau profitiert, muss den Schaden wiedergutmachen. Nur so wird es gelingen, einen Karawanenraubbau - heute hier, morgen dort - zu stoppen. Darüber wollen wir in Bonn unter dem Motto "Alternative Finanzierungsmöglichkeiten" diskutieren. Die Profiteure des Raubbaus müssen zahlen.

Derzeit passiert aber genau das Gegenteil: Mit der verpflichtenden Beimischung von Biosprit etwa fördert es die Europäische Union, dass der Regenwald abgeholzt wird, um Plantagen für Ölpalmen anzulegen.

Das wollen wir mit Nachhaltigkeitskriterien verhindern, die wir gerade in die Beratungen in der EU einbringen - und zwar für sämtliche importierte Biomasse. Denn es hilft auch nichts, wenn auf Kahlschlagflächen statt Palmöl dann Soja angebaut wird.

Aber müssten Sie die Förderung von Biosprit bis dahin nicht aussetzen?

Das hielte ich für das falsche Zeichen. Wir dürfen nicht den Eindruck vermitteln, wir wollten durch ökologische Standards den Import von Rohstoffen aus Entwicklungs- und Schwellenländern verhindern. Das empfinden diese Länder nämlich als Arroganz ihrer ehemaligen Kolonialstaaten, die ihre Märkte weiterhin abschotten wollen.

Was muss passieren, damit es bei der UN-Konferenz zu echten Fortschritten kommt?

Die Länder des Südens müssen unterstützt werden, wenn sie auf Nutzungen verzichten und wichtige Biotope schützen. Und sie müssen an den Gewinnen beteiligt werden, die mit der Nutzung von genetischen Ressourcen gemacht werden. Auf der Konferenz diskutieren wir das unter dem Begriff "gerechter Vorteilsausgleich".

Wie soll das funktionieren?

Wenn die Industrieländer etwa Pflanzen aus den Regenwäldern haben wollen, um damit Medikamente herzustellen, dann müssen die Entwicklungsländer quasi als Lizenzgebühr einen Teil vom Gewinn erhalten - um den Schutz der Wälder zu bezahlen und um ihr traditionelles Wissen zu honorieren, das oft die Voraussetzung für die Nutzung ist. Das halte ich für absolut normal.

Aber werden da alle mitspielen? Was ist beispielsweise mit den USA?

Die Amerikaner sind kein Mitglied der Konvention und sperren sich massiv gegen solche Regeln. Schließlich geht es dabei um beinharte wirtschaftliche Interessen. Aber wenn es einen international verbindlichen Rechtsrahmen gibt, werden sich auch Firmen aus den USA dem nicht widersetzen können. Ihnen wird sonst schlicht der Zugang zu genetischen Ressourcen gesperrt werden.

Umweltschützer sagen, dass gewaltige Summen notwendig seien, um die wichtigsten globalen Naturräume zu schützen, und sprechen von 30 Milliarden Euro im Jahr. Wie werden Sie bei der UN-Konferenz auf den Tisch legen?

Das kann nicht die Messlatte für den Erfolg der Konferenz sein. Solche Summen sind unrealistisch. Wir stellen in Bonn ein einfaches, aber effektives Modell vor, das wir "LifeWeb" nennen. Dabei benennen Entwicklungs- und Schwellenländer mögliche Schutzgebiete, und die Industrieländer, die dazu bereit sind, stellen Geld zur Verfügung. Wir beteiligen uns daran mit einem Teil der Erlöse aus dem Verkauf von Emissionshandelszertifikaten. In diesem Jahr werden rund 40 Millionen Euro in neue Schutzgebiete in den Tropenwäldern auf Borneo, im Kongobecken und im Amazonas fließen. Wenn ab 2013 die Versteigerung im Emissionshandel noch mehr Geld in den Haushalt spült, kann ich mir vorstellen, dass diese Mittel weiter aufgestockt werden.

Sind solche unverbindlichen Maßnahmen angesichts der Dringlichkeit, von der Sie selbst gesprochen haben, nicht völlig unzureichend?

Wünschen kann man sich vieles. Aber bei Schutzgebieten gibt es international nur einen Weg, und der ist freiwillig. Wenn wir mit der Forderung kommen, das rechtsverbindlich zu machen, können wir die Konferenz absagen. Dann kommt nämlich keiner.

Haben Sie dennoch Hoffnung, dass es tatsächlich gelingt, den Artenschwund bis 2010 zu stoppen oder wenigstens deutlich zu verlangsamen?

Das hängt davon ab, ob wir es schaffen, dieses Thema herauszuholen aus dem engen Kreis von Experten und Umweltministern. Ich selbst habe gemerkt, dass ein Gesinnungswandel möglich ist.

INTERVIEW: HANNA GERSMANN & MALTE KREUTZFELDT

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.