"100 Tage" von Lukas Bärfuss: In der perfekt organisierten Hölle

Der Schweizer Autor Lukas Bärfuss wurde mit Theaterstücken bekannt. Nun hat er seinen ersten Roman geschrieben - ein eindrucksvolles Buch über den Völkermord in Ruanda.

<typohead type="5">

</typohead>

In der Schweiz hat das Buch bereits eine kleine Debatte ausgelöst. Sätze wie "Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin", passen nicht in den Bestand behaglicher Selbstzufriedenheit. Was hat die Schweiz mit Ruanda zu tun und mit dem Völkermord, der sich 1994 dort ereignete? Eine Menge, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss. Seit der Unabhängigkeit Ruandas 1962 hat sich die Schweiz dort kräftig engagiert und ebenso kräftig ignoriert, dass mit Juvénal Habyarimana ein dubioser Diktator herrschte. Einer seiner engsten Berater war ein Schweizer, der bis 1993 direkt auf der Lohnliste der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe (DEH) stand.

"Hundert Tage" ist der erste Roman des 1971 in Thun geborenen Autors, der mit Theaterstücken bekannt geworden ist. Darin befasste er sich mit Tabuthemen wie Sterbehilfe, Zwangspsychiatrisierung und der Sexualität von Behinderten und etablierte sich als ein dezidiert politischer Autor. Das Wagnis, einen Genozid zu erzählen, meistert er in dem Roman mit Bravour, weil er aus einer begrenzten, distanzierten Perspektive darauf blickt. Hauptfigur ist ein junger Schweizer Entwicklungshelfer, der 1990 voll Idealen und Gerechtigkeitssinn nach Kigali kommt und die isolierte Parallelgesellschaft der Helfer mit wachsender Skepsis betrachtet. Als alle anderen überstürzt die Flucht ergreifen, bleibt er zurück, weil er sich in eine Frau verliebt hat, die er wiederfinden will. Im Versteck durchlebt er die hundert Tage, in denen 800.000 Menschen niedergemetzelt wurden. Ein Gärtner, der tagsüber mordend durch die Gegend zieht, versorgt ihn mit Wasser und Brot. So wird er selbst hineingezogen und abhängig von einem der Täter.

Die schöne Geliebte ist da nur noch eine Erinnerung. Sie, die zur Bevölkerungsmehrheit der Hutu gehört, hat sich in der Krise in eine hassverzerrte Propagandistin verwandelt. Das Verhältnis zwischen dem jungen Europäer und der attraktiven Afrikanerin, geprägt von kultureller Fremdheit, Unverständnis und Gier, ist das Zentrum des Romangeschehens, wo sich die Ratlosigkeit der Politik in der Intimität der Beziehung widerspiegelt. David steigert sich in eine seltsame sexuelle Raserei hinein, als er miterlebt, wie die Geliebte aus ethnischen Gründen eine ältere Frau demütigt. Er erschrickt über sich und genießt doch diese wilde, unbekannte Lust.

Harmlosigkeit und Aggression, Zivilisiertheit und Bestialität gehen ineinander über. Stets sind es die Ambivalenzen der Gefühle und Handlungen, die Bärfuss sichtbar macht. Er schildert das Dilemma der Entwicklungspolitik, ohne zu behaupten, alles besser zu wissen. Das Grundproblem liegt eben darin, dass Aufbauhilfe auf Stabilität ausgerichtet ist und deshalb der jeweiligen Herrschaft nützt. "Wir sahen die Folgen nicht, wir sahen nur unsere Tugend, die uns zu helfen befahl", lässt er seinen Helden sagen. Die Frage, ob das besser ist als Nichtstun, bleibt offen. Was bedeutet es, Telefonleitungen zu legen, durch die Mordbefehle gegeben werden, oder Straßen zu bauen, auf denen die Mörder zu ihren Opfern fahren? Was soll man davon halten, wenn ein Seminar über Radiojournalismus so erfolgreich ist, dass die rassistische Hetze im staatlichen Sender anschließend in richtig gut gemachten Programmen stattfindet?

Bärfuss erkundet die moralische Dimension der Politik. Doch er schreibt nicht als Moralist, sondern als genauer Beobachter, der sein Thema mit wissenschaftlicher Akribie recherchierte. Großen Wert legt er darauf, die europäischen Klischeebilder von undurchschaubarer, archaischer Stammesgewalt infrage zu stellen. Der Völkermord, so seine Gegenthese, sei nur möglich gewesen, "weil dieser Staat jedem einzelnen Bürger einen festen Platz in der Gesellschaft gab". Da herrscht nicht Chaos, sondern "die perfekt organisierte Hölle". Mit geradezu preußischer Disziplin gehen die Mörder vor und machen pünktlich um 17 Uhr Feierabend. Wenn ein Teil der Familie dann noch lebt, kommen sie am nächsten Morgen zurück, um ihre Arbeit fortzusetzen.

Die Zustände im Flüchtlingslager Goma erscheinen als beklemmender "Slapstick des Todes". Die noch nicht ganz Toten stürzen in einer letzten Kraftanstrengung vom Leichenhaufen und sind dann erst wirklich tot. Der Lkw mit Hilfsgütern fährt über ausgedörrte Leichen, deren Knochen unter den Rädern knacken "wie brennendes Reisig". Fernsehsender konkurrieren um die besten Sterbebilder, Hilfsorganisationen um die beeindruckendsten Todesziffern. Und David findet endlich seine Geliebte wieder, die vor seinen Augen stirbt.

Der Roman trägt manchmal schwer an all dem Stoff, den er transportieren muss. Dann klingt er wie ein Vortrag zur Geschichte Ruandas und des Kolonialismus. Die Rahmenhandlung - David Hohl erzählt einem alten Schulfreund in den Schweizer Bergen, während draußen Schnee fällt - gerät nach ein paar Seiten völlig in Vergessenheit und hat keine andere Funktion, als eine Distanz zum Ich-Erzähler aufzubauen. Trotz dieser Schwächen ist "Hundert Tage" ein eindrucksvolles Buch, in dem eben nicht die Fakten zur Hauptsache werden, sondern die Figuren und ihre Verstrickungen erlebbar sind.

Lukas Bärfuss: "Hundert Tage". Wallstein, Göttingen 2008, 198 Seiten, 19,90 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.