Big Sister Is Watching You

Mit „Red Road“ von Andrea Arnold beginnt die Reihe „Augen und Blicke im Kino“ im Kino 46

In Großbritannien kann man sich kaum in den öffentlichen Räumen der Großstädte bewegen, ohne dabei durch eine Kamera beobachtet zu werden. Zwanzig Prozent aller weltweit arbeitenden Video-Überwachungssysteme sind im United Kingdom installiert - ein Grund dafür waren die Terroraktionen der IRA in London, denen man schon in den 80er Jahren versuchte, mit elektronischen Mitteln Herr zu werden. Aber noch können diese Kameras nur aufnehmen und nicht sehen - und so gibt es inzwischen Hunderte von Arbeitsplätzen wie jenen von Jackie: Sie sitzt in der Zentrale der Überwachungsfirma „City Eye Control“ vor einer riesigen Wand voller Bildschirmen und kann jede Situation auf den Straßen Glasgows mit wenigen Klicks auf dem Keyboard heranzoomen.

Im ersten Akt besteht „Red Road“ etwa zur Hälfte aus diesen Bildern von Überwachungskameras. Der Film zeigt was Jackie sieht, wie sie darauf reagiert, wie sie die Perspektiven auswählt und verändert. Wenn sie nachts ein hilfloses Mädchen an einer Mauer hocken sieht, ruft sie die Polizei und die ist schnell vor Ort und kann Schlimmes verhindern. Aber sie sieht auch den Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu. So wird ein Mann, der seinen kranken Hund ausführt zu ihrem guten Bekannten. Bald wird klar, dass sie zu anderen als diesen voyeuristischen Kontakten nicht fähig ist. Der Zuschauer wird lange darüber im Unklaren gelassen, welcher schwere Schicksalsschlag Jackie heimgesucht hat. Aber sie braucht offensichtlich dringend die Mischung aus Behütung und Distanz, die ihr diese Arbeit ermöglicht.

Einmal glaubt sie auf dem Bildschirm jemanden zu erkennen, und sie beginnt ihn mit den Kameras zu verfolgen. Aber um wirklich Einfluss zu nehmen, um diesen Mann zu konfrontieren, , muss sie selber auf die Straßen, in die Bars und Häuser gehen - nur sie weiß genau, wo die Kameras sind. Natürlich steht bei solch einem Film Hitchcocks „Fenster zum Hof“ Pate, und tatsächlich entwickelt sich der Film eine Zeitlang zu einem Thriller. Doch Andrea Arnold setzt die Spannungsdramaturgie nur sehr sparsam und gebrochen ein. Ihr geht es mehr um diese Frau und darum, wie sie lernt, ihr Trauma zu verarbeiten. Kate Dickie spielt sie in ihrem Leinwanddebüt als eine Frau, die in großer seelische Not eine Mauer zwischen sich und den anderen aufgebaut hat, und sie zeigt in Nuancen wie Blicken und kleinen Gesten, wie sich in diesemSchutz Risse bilden.

Die titelgebende Red Rock Wohnsiedlung gilt als die größte in Europa. In die riesigen Betongebäude verirrt sich kaum ein organischer Farbton und so sieht der Film unwirtlich aus. Andrea Arnold hat keine “schöneren“ Bilder als jene der Überwachungskameras machen wollen, und so hat der Film durchweg eine beklemmend, düstere Grundstimmung. Seltsamerweise ist „Red Rock“ eine Art Sprössling der Dogma-Filme, denn die dänischen Filmemacher um Lars von Trier haben mit ihrem Projekt „Advance Party“ ein neues Regelwerk geschaffen. Insgesamt drei Filme sollen in Schottland gedreht werden, in denen jeweils die gleichen Charaktere mitspielen, die von den Filmemachern Lone Scherfig und Anders Thomas Jensen entwickelt wurden. Regie soll jeweils ein Debütant führen, und so ist „Red Rock“ der erste Spielfilm von Andrea Arnold, die 2005 einen Oscar für einen Kurzfilm bekam. „Red Road“ wurde 2007 in Cannes mit dem Jury ausgezeichnet. Von den anderen Filmen des Projekts hat man noch nichts weiter gehört. Mache Filme haben seltsame Eltern. WILFRIED HIPPEN