Spurensuche an einem Zufluchtsort

SELBSTVERGEWISSERUNG Melitta Breznik erzählt von biografischen Brüchen und Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs: „Nordlicht“

Ein Ort, an dem man an seine Grenzen kommt. Das sind bei Breznik die Lofoten

Karger, einsamer und düsterer kann ein Ort nicht sein: ein abgelegenes Haus auf den Lofoten in Nordnorwegen, im Dezember, wenn die Dunkelzeit beginnt und die Sonne sich für mehrere Wochen nicht mehr blicken lässt. Ein Ort, an dem man an seine Grenzen kommt. Hierher schickt Melitta Breznik ihre Protagonistin Anna. Grenzgängereien sind der 48-jährigen österreichischen Schriftstellerin nicht fremd; in ihrem zweiten Beruf als Psychiaterin begegnen sie ihr alltäglich, und Spuren dieser Erfahrungswelt fanden sich auch in ihren drei vorigen Büchern. „Nordlicht“ ist der erste Roman.

Für Anna sind die Lofoten ein Zufluchtsort, an dem sie ihren Lebenswillen auf die Probe stellt. Ein Selbstmordversuch liegt nur Wochen zurück, Tiefpunkt einer umfassenden Krise. Ihre Arbeit als Psychiaterin hat sie aufgerieben. Sinnestäuschungen und die Angst, an Schizophrenie zu erkranken, entziehen ihr jede Sicherheit. Ihre Ehe ist am Ende. Aber sie springt dann doch nicht in die Tiefe, trifft stattdessen radikale Entscheidungen – mit einer Entschlusskraft, die dem Wissen entspringt, dass es ums Überleben geht.

Sie kündigt ihre Stelle und zieht auf die Lofoten. Nordnorwegen, das erfährt man bald, ist ein Fixpunkt ihrer Kindheit: Der inzwischen verstorbene Vater war dort als Wehrmachtssoldat stationiert. Ein abweisender, fremder Vater, dessen Tagebücher aus jener Zeit Anna nun im Gepäck hat.

In einer geschickten Montage von fortschreitender erzählter Gegenwart und Rückblenden entfaltet Breznik ein Porträt Annas. In kurzen Kapiteln erschließt sich der Beginn ihrer Liebe, sie war Ende zwanzig, ihr späterer Mann fünfzehn Jahre älter. Erzählt wird nur vom „Anfang ungewiss und ersehnt“. Um den Aufbruch geht es, um Verheißungen, den Entwurf einer Zukunft. Auch um einen Selbstentwurf, der nun ganz infrage steht; nur um den Preis eines radikalen Bruchs kann das Ich neu gewonnen werden. Diesen Prozess der Rückeroberung, der Genesung, beschreibt Brzenik in einer schnörkellosen, klaren Sprache. „Auf der Insel fühle ich mich inzwischen ein wenig zu Hause. Ich mag den Blick auf die steinige Bucht und den sanft ansteigenden Berg, der sich hinter der Hütte erhebt. (…) Diese Gegend bestätigt mir in ihrer Unverrückbarkeit täglich meine Existenz.“ Nur in der Gegenwart kann Anna von sich in der Ich-Form erzählen, in den Rückblenden agiert eine „sie“, Fremdheit gegenüber der eigenen Vergangenheit wird so auch sprachlich deutlich.

Auch die Spurensuche mit Hilfe der Tagebücher des Vaters dient der Selbstvergewisserung. Was geschah hier, lange vor ihrer Geburt? Als der Vater noch ein anderer war, nicht der verschlossene, freudlose Mann, der, wie so viele, über seine Erlebnisse im Krieg kaum sprach und in einem Leben ohne Krieg nicht mehr zurecht kam.

Über die Figur des Vaters eröffnet sich nach der Hälfte des Romans ein überraschender, neuer Erzählraum, eine neue Geschichte, die doch wie eine Spiegelung funktioniert. Giske, eine Frau um die sechzig, die Anna auf einem ihrer Streifzüge kennen gelernt hat, spricht nun. Parallel zur Gestaltung des ersten Teils, erfährt man auch ihre Geschichte im Wechsel von Rückblenden und Gegenwart. Sie ist die Tochter einer Norwegerin und eines deutschen Soldaten: eines von vielen „Deutschenbälgern“, deren Existenz nach dem Krieg am liebsten negiert worden wäre. Dementsprechend sah die Kindheit und Jugend Giskes im Norwegen der 1950er-Jahren aus: eine grausame Zeit bei Pflegeeltern, im Kinderheim, in einer psychiatrischen Klinik. Um etwas über sich zu erfahren, muss sie ein Tabu brechen, dafür wird sie ihr bisheriges Leben aufgeben. So erfährt man viel über die Verhältnisse in Norwegen nach 1945, den Riss, den der Krieg hinterlassen hat.

Giskes und Annas Geschichten bespiegeln sich gegenseitig. Beiden ist der Vater durch den Krieg abhanden gekommen, wenn auch auf verschiedene Weise, beider Biografien sind davon stark geprägt. Die Autorin spielt mit der Frage, ob denn beide gar Halbschwestern seien.

Melitta Breznik ist eine kunstvolle Verflechtung von persönlicher Geschichte und historischen Ereignissen geglückt. Nicht zuletzt ist „Nordlicht“ ein Doppelporträt zweier eigenwilliger Frauen, ein Buch über Selbstentwürfe und den Mut zum radikalen Bruch – trotz aller Düsternis und vieler Traurigkeiten. CAROLA EBELING

■ Melitta Breznik: „Nordlicht“. Luchterhand, München 2009. 252 Seiten, 17,95 €