Staatsgewalt nach Noten

EUROVISION Kurz vor dem großen Liederwettstreit flieht ein junger aserbaidschanischer Musiker nach Deutschland. In seiner Heimat gebe es keine Freiheit, sagt Jamal Ali

„Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contest untersagt“

TEILNAHMEBEDINGUNGEN DES ESC

BAKU/BERLIN taz | Morgen beginnen in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku die Vorentscheidungen des 57. Eurovision Song Contest (ESC), seit Monaten steht die Veranstaltung wegen anhaltender Menschenrechtsverletzungen durch das Regime in der Kritik.

Jetzt ist ein Musiker aus Aserbaidschan nach Deutschland geflüchtet, möglicherweise wird er hier Asyl beantragen: Der 24-jährige Jamal Ali berichtet, im März in seiner Heimat von der Polizei festgenommen worden zu sein, weil er regimekritische Lieder veröffentlicht hatte. Sollte er dies wieder tun, müsse er sich auf eine längere Haftstrafe einstellen, hätten die Polizisten ihm angedroht, sagt Ali im taz-Interview.

Im Mai produzierte Ali erneut einen Song, in dem er die staatlichen Vertreibungen von Bewohnern in Baku thematisiert. „Der Staat lässt die Häuser von Menschen zerstören und dafür riesige Konzerthallen bauen“, sagt Ali. Aus Angst vor neuen Repressionen setzte er sich nun nach Deutschland ab.

„Die Menschen haben einfach Angst, ihre Meinung zu sagen. Und dazu bekommen sie auch keine Möglichkeit“, sagt Ali. Es gebe keinerlei Freiheiten, die Mehrheit der Bevölkerung habe sich „schon längst damit abgefunden, dass Präsident Alijew bis zum Ende des Jahrhunderts herrschen wird“.

Die Clique des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew hat Wirtschaft und Medien des kaukasischen Landes in ihre Hand gebracht. Schon zu Zeiten des Warschauer Pakts herrschte die Familie zeitweise in dem Land. Oppositionelle beklagen, dass die Sippe die internationale Aufmerksamkeit durch den ESC instrumentalisieren werde, um ihre Herrschaft zu festigen.

Beim Eurovision Song Contest werden 42 Länder mit Liedbeiträgen gegeneinander antreten. In zwei Halbfinalrunden am morgigen Dienstag und am Donnerstag kommen je zehn Länder weiter, im Finale am Samstag stehen 26 Länder. Als größte Geldgeber für die Ausrichterin, die European Broadcasting Union (EBU), sind Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland automatisch fürs Finale qualifiziert. Die EBU versucht, den ESC möglichst unpolitisch zu halten: „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contest untersagt“, so das Regelwerk des Liederwettstreits für 2012.

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