Zur Erinnerung verdonnert

MAUER Am 24. August 1961 wurde Günter Litfin erschossen. Bis heute rächt sich sein Bruder jeden Tag an der DDR

Der große Bruder: Elf Tage nach dem Bau der Berliner Mauer versucht Günter Litfin, 24, die Spree zu durchschwimmen, um ans westliche Ufer zu gelangen. DDR-Grenzsoldaten schießen auf ihn, er wird getroffen und ertrinkt. Der Maßschneider Günter Litfin ist das erste Opfer des Mauerschießbefehls.

Der kleine Bruder: Günter Litfins Bruder Jürgen, 69, will die Erinnerung an die Tat wachhalten. Deshalb hat er nach der Wende in einem Grenzwachturm ein Museum für Günter Litfin und alle Opfer der Berliner Mauer eingerichtet.

VON CAROLIN PIRICH

Der Turm sieht harmlos aus, ein hellbrauner, verwitterter Klotz. Er steht zwischen mehrstöckigen Häusern, etwas verloren, als hätte ein großes Kind nach dem Spielen nicht aufgeräumt. Unter eine der Schießscharten hat jemand „Post“ gesprüht und an die Rückseite „Ab heute alle glücklich“.

Das Wasser, das in die Wände gesickert ist, hat Schimmelflecken hinterlassen. Deshalb gibt es jetzt ein neues Dach, auch die Regenrinne ist neu. Jürgen Litfin hat beides anbringen lassen. Billig war das nicht, sagt er, und einfach auch nicht. Aber an Erinnerungen muss man arbeiten, damit sie bleiben.

Der Turm am Kieler Eck in Berlin war eine von drei „Führungsstellen“ der DDR-Grenztruppen, von hier aus überwachten Soldaten das flach gewalzte Sperrgelände, die beiden Mauerverläufe, die Stacheldrahtanlagen dazwischen. Nicht weit entfernt, nur ein paar hundert Meter, zog am 24. August 1961 die Ostberliner Polizei eine Leiche aus dem Becken des Humboldthafens: Günter Litfin, 24 Jahre alt. Er war das erste Opfer des Schießbefehls, er war Jürgen Litfins Bruder. Sanft sei er gewesen, sagt Litfin heute, habe im Osten gewohnt und im Westen als Schneider gearbeitet, bis am 13. August 1961 plötzlich kein Rüberkommen mehr gewesen sei.

Der Pfarrer sagte „Unfall“

Hals- und Mundbodendurchschuss, so stand es im Bericht der Gerichtsmedizin. „Hier rein und da wieder raus“, sagt Jürgen Litfin und tippt sich erst an den Nacken, dann ans Kinn. Er weiß noch, wie Günter aussah, als er ihn im Sarg ein letztes Mal anschaute: abweisend zwar und blass, aber es war sein Bruder. Im Gesicht klebte ein Pflaster. Bei der Beerdigung sprach der Pfarrer von einem „Unfall“. Im Totenschein für die Familie blieben die Zeilen für die Todesursache leer.

Jürgen Litfin arbeitete damals in einer Ostberliner Gießerei. Er heiratete, wurde Vater, seine Familie wurde „lückenlos überwacht“, auch die Tochter. 1981 wurde er wegen einer Lappalie verhaftet und zehn Monate später als „unverbesserlicher Staatsfeind“ nach Westberlin entlassen, nur „in Hemd und Hose“. So rafft er die Jahre zusammen, er spricht schnell und, wenn er von der Stasi erzählt, auch laut.

Jürgen Litfin sitzt vor dem Turm auf einem Plastikstuhl und raucht. Er ist 69 Jahre alt, seine weißen Haare sind sorgfältig frisiert. Er trägt ein dunkles Hemd zu dunkler Hose, das Sakko zieht er aus und streicht über den Stoff. „Man muss sich ja gut anziehen“, sagt er, das habe ihm der Günter beigebracht. „Der ging immer first class angezogen, wie ausm Katalog.“ Die Kleidung und der Turm, das sind die beiden Dinge, die ihn täglich an seinen Bruder erinnern. Seine Frau ist vor Jahren gestorben.

„Dieser SED-Killer“

1992 liest er die Akten, er sieht das Foto, das zeigt, wie sie seinen Bruder aus dem Wasser ziehen. Erst habe es Warnschüsse gegeben, steht da, dann Salven aus einer Maschinenpistole. Jürgen Litfin erstattet Anzeige wegen Mordes. Fünf Jahre später wird Herbert P. wegen Totschlags zu 16 Monaten Haft verurteilt, auf Bewährung. „Dieser SED-Killer“, sagt Litfin.

1961 gab es den Turm noch nicht. Aber Jürgen Litfin wollte hier am Kieler Eck eine Gedenkstätte für Günter und die anderen Maueropfer einrichten. 2001 sammelte er Unterschriften, damit der Turm auf der Landesdenkmalliste blieb. Er renovierte ihn, er kann so etwas. Er muss es auch, denn er bezahlt alles selbst.

Er weiß noch, wie Günter aussah, als er ihn im Sarg ein letztes Mal anschaute

„He, Herr Nachbar, sagt man nicht Guten Tag?“, ruft er einem Passanten zu. Jürgen Litfin kennt alle, die vorbeikommen, er sitzt hier jeden Tag. „Aus einem kühlen Grunde“, sagt er und blinzelt in die Sonne, „ich nehme Rache an der DDR.“ Rache an den „Brühköppen“, die das Land „für ein Arbeiter- und Bauernparadies“ hielten; für diesen 24. August, der seine Mutter gebrochen hat; für das Verhör am Tag nach Günters Tod; für das Ehrenabzeichen der Volkspolizei, mit dem der Schütze Herbert P. ausgezeichnet wurde; für die Monate im Gefängnis. „Ich bin zur Erinnerung verdonnert“, sagt Litfin.

Deshalb hat er sich dafür eingesetzt, dass eine Straße in Berlin jetzt Günter-Litfin-Straße heißt, und er hat ein Buch geschrieben: „Tod durch fremde Hand“. Deshalb hat er den Gedenkstein für seinen Bruder wieder aufgebaut. Der Stein hatte am Westufer gestanden, da, wo Günter Litfin aus dem Wasser steigen wollte, und war 1995 verschwunden, vermutlich bei Bauarbeiten. Fünf Jahre später hat ihn ein Bauarbeiter wiedergefunden.

Aber am wichtigsten ist ihm der Turm. „Meine Praxis“, nennt Jürgen Litfin ihn. Jeden Morgen ruft er „meine Jungs“ an, die Touristen durch Berlin führen, damit er weiß, wie viele Besucher heute die steile Treppe unter das Dach klettern werden – „meine Patienten“. Er zeigt ihnen Fotos von den Sperrsystemen und das Bild von seinem Bruder mit den dunklen Locken und der feinen Hemdkrawatte. Man kann Stasidokumente und Zeitungsartikel durchblättern und die wattierte Uniform anfassen, die er einer Schaufensterpuppe angezogen hat, für die Kinder. Wenn sie etwas anfassen könnten, sagt er, bleibe auch etwas hängen. „Sonst wäre die ganze Liebe ja vergebens.“

Wenn Jürgen Litfin seinen Patienten zum Abschied die Hand gibt und sie seinen festen Druck erwidern, empfindet er etwas, das er als Genugtuung beschreibt.