Wie es leuchtet

ENTHÜLLUNG „Willy Brandt ans Fenster“ ruft es ab Mittwoch vom Dach des Erfurter Hofs. 1970 hat der SPD-Kanzler hier Gewissheiten erschüttert

Das neue Denkmal wird Fragen provozieren

AUS ERFURT THOMAS GERLACH

Da, wo am 19. März 1970 Volkspolizei den Bahnhofsvorplatz abriegelte, schließt Karin Dietrich jetzt ihr Fahrrad an. Dann geht sie hinüber zum Erfurter Hof. Die 52-Jährige schaut auf, hält inne. Ins Himmelblau reckt sich, gut lesbar, der Ruf, der doch noch verhüllt sein sollte. Der Schriftzug „Willy Brandt ans Fenster“ ist so gut zu sehen, als wäre er gar nicht verpackt. Das Denkmal hat sich schon selbst eingeweiht. Offiziell wird das Willy-Brandt-Denkmal erst am Mittwochabend enthüllt. Doch es hilft nichts, manche Worte lassen sich nicht verstecken.

Karin Dietrich trägt es mit Fassung. Es gab Schlimmeres in der noch kurzen Geschichte des Denkmals. Und es scheint wie ein Nachhall auf jenen Märztag 1970, als Willy Brandt und Willi Stoph sich zum ersten deutsch-deutschen Gipfelgespräch in Erfurt trafen.

Leuchtreklame! Verrückt!

Die SED hatte alles vorbereitet. Kurzer Gang vom Bahnhof zum Erfurter Hof, der Platz war abgeriegelt, Schulen und Betriebe hatten Ausgangssperre. Ministerpräsident Stoph würde die Forderung nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR verlesen. Und dann das.

Kaum ist Brandt im Hotel verschwunden, da reißen die Absperrketten, eine Straßenbahn, als Bollwerk aufgestellt, wird fast aus den Gleisen gekippt, und schon rufen die Menschen diesen Satz, der nun zum Denkmal erstarrt ist. „Willy Brandt ans Fenster!“

„Die Polizei hat erhebliche Schwierigkeiten, die spontane Kundgebung der Erfurter Bevölkerung abzudrängen“, beobachtet WDR-Reporter Gerd Ruge, fast wird auch er überrannt. Und dann öffnet sich ein Fenster und Willy Brandt schaut heraus, freundlich, schüchtern fast, hebt vorsichtig die Hand, besänftigt die Menge, die in Jubel ausgebrochen war. „Willy! Willy!“-Rufe. Das Fenster schließt sich wieder.

„Dieses war die Geste des Kanzlers an die Erfurter Bevölkerung,“ kommentiert Ruge das Schauspiel, das an Papstszenen erinnert. So hatte sich das die SED gerade nicht vorgestellt.

Karin Dietrich öffnet das Fenster im Zimmer 222 des ehemaligen Erfurter Hofs. Das Holz, die Griffe, alles original. An der Wand Bilder und die entscheidende Fotosequenz, wie Brandt die Hand hebt. Doch das „Willy-Brandt-Zimmer“ ist kein Museum. Es riecht nach Essen. Die Thüringen Tourismus GmbH, die den Raum jetzt nutzt, hatte eine Besprechung.

Karin Dietrich ist SPD-Mitglied und im „Freundeskreis Willy Brandt im Erfurter Hof“ aktiv. Dass sie Willy Brandt verehrt, daraus macht sie keinen Hehl. Mehrfach fällt das Wort „Visionär“. Dass Brandts damaliges Zimmer im jetzigen Geschäftshaus Erfurter Hof zugänglich bleibt, dass hier noch ein klein wenig der Geist von damals weht, das ist auch ihr Verdienst. Dass nun ein Denkmal an den „Tag von Erfurt“ erinnert, dass es dieses Denkmal ist, ebenfalls. Karin Dietrich war in der Jury.

Leuchtreklame! Verrückt! Rad ab! – das waren so Bemerkungen zum Projekt des Berliner Künstlers David Mannstein, als dessen Entwurf zum Sieger gekürt wurde. Viele dachten bei einem Brandt-Denkmal wohl eher an Bronzenes denn an Leuchtschrift. Doch die größte Sünde war: Mannstein hatte das Wort … ja was? Verändert? Verfälscht? „Willy komm ans Fenster“ sollte es ursprünglich vom Dach rufen. Die Empörung war groß. Vox populi, jedenfalls das, was in der Lokalzeitung und anderswo veröffentlich wurde, wollte sich nicht verändern lassen, auch nicht künstlerisch. Der Künstler lenkte ein, und so steht „Willy Brandt ans Fenster“ in den Himmel geschrieben. Das Verb „komm“ hat Mannstein wieder ins Auto gepackt.

Viele dachten bei einem Brandt-Denkmal eher an Bronzenes

Brandt, der Weltbürger

„Wir hier in Erfurt sind kleine Krämer“, seufzt Karin Dietrich, „Willy Brandt war ein Weltbürger.“ Sie stimmte für den Ursprungsentwurf, zu dem nicht nur der Schriftzug gehört, sondern auch ein „Brandt-Infoterminal“ am Eingang des Hauses. Außerdem wird das Fenster, vor dem sie gerade sitzt, nachts ebenfalls erleuchtet sein. Ein bisschen Schauspiel muss sein.

Sie blickt aus dem Fenster. Das Pflaster auf dem jetzigen Willy-Brandt-Platz wurde gegen Platten ausgetauscht, fußgerecht und bruchsicher. Die deutsche Einheit hat ihre hand- und fußfesten Folgen. Im Erfurter Hof residieren die Sparkasse, die Thüringer Tourismus GmbH, im Parterre sonnen sich die Gäste vor der Bar „Willy B.“.

Kaum eine Minute währte das Wetterleuchten von Erfurt. Karin Dietrich, damals 13 Jahre alt, hatte sich wie viele andere fortgestohlen aus der Schule. Der Tag ging in die deutsch-deutsche Geschichte ein, nicht, was seine offiziellen Ergebnisse angeht, die waren mager. Aber dass die DDR-Bürger bei erster Gelegenheit dem Kanzler aus Bonn zujubelten, war ein Menetekel für die SED. Der neue Kanzler, kaum fünf Monate im Amt, hatte Hoffnungen geweckt – nicht nur in Bonn, auch in Erfurt.

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – auch das steht am Eingang zum Erfurter Hof. Der Satz vom 10. November 1989 klingt wie eine späte Antwort Brandts auf jenen Moment, als ihn die Menge zum Fenster rief. Da, wo sie jubelten, steht jetzt eine Grundschulklasse, die Lehrerin zeigt hinauf. Buchstabierversuche. Das neue Denkmal wird Fragen provozieren. Und hoffentlich nicht nur zur deutschen Grammatik.