Wilderer der Textilgeschichte

Höher kann man am Fashionfirmament nicht steigen als bis zur Position des Kreativdirektors eines der großen Modehäuser. Der Absturz aus dieser Fallhöhe ist entsprechend schmerzhaft, schlimmstenfalls letal. Alexander McQueen stürzte wohl über seine eigene Psyche und erhängte sich im Frühjahr 2010. John Galliano stolperte ein Jahr später über seine Liebe zu alkoholischen Getränken und Adolf Hitler. Letzteren proklamierte er angetrunken und wüst pöbelnd in einer Bar. „Leute wie Sie sollten tot sein“, fuhr er einen Gast an. „Ihre Mütter, Vorfahren, sollten alle noch mal vergast sein.“

Nach Bekanntwerden des Vorfalls durch ein auf YouTube verbreitetes Video zog Christian- Dior-CEO Sidney Toledano die Notbremse, suspendierte den bisher als Enfant terrible gehätschelten Galliano und feuerte ihn am 1. März 2011. Toledano hat damit Schaden von der Marke abgewendet; Galliano selbst flüchtete sich in Entschuldigungen und Entziehungskuren und hat sich ab heute in Paris vor Gericht zu verantworten.

Egal wie das Urteil lauten wird, Galliano dürfte es wohl nie wieder bis ganz nach oben schaffen, dafür steht in der Branche zu viel auf dem Spiel, und potenzielle (und jüngere) Nachfolger wie Riccardo Tisci scharren schon mit den Hufen. Für Galliano kann es nur noch darum gehen, Reue zu zeigen, um sich von den Anschuldigungen zumindest teilweise reinwaschen zu können, sollen seine rassistischen Äußerungen nicht bis in alle Ewigkeit sein nicht zu leugnendes Talent überstrahlen.

Galliano gilt als der Kostümbildner unter den Designern. Schon für sein Diplom am Central St. Martins College in London interpretierte der 1960 in Gibraltar geborene Brite die Kleidungsordnung der Französischen Revolution. Seine Kollektionen für Givenchy und seit 1997 für Dior sowie seine eigene Linie wilderten fortan in der Bildgeschichte der textilen Maskerade; die eigene Selbstinszenierung geriet ihm als Scharade zwischen flamboyantem Dandytum à la Ezra Pound (der sich den italienischen Faschisten anbiederte) und „Fluch der Karibik“. Ob er den Fluch des Antisemitismusvorwurfs entkräften kann, wird er dem Strafgericht beweisen müssen. MARCUS WOELLER