Den Machthabern ein Dorn im Auge

TSCHETSCHENIEN Die bekannte Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa wurde gestern in Grosny ermordet

MOSKAU taz | Die Leiterin des tschetschenischen Büros der Menschenrechtsorganisation Memorial, Natalia Estemirowa, wurde gestern ermordet. Ihr Leichnam wurde in der Nachbarrepublik Inguschetien gefunden. Am Morgen war sie von Unbekannten vor ihrem Haus in Grosny festgehalten und gewaltsam in einen weißen Lada gezerrt worden. Nach Zeugenaussagen rief Natalia Estemirowa noch laut, dass sie entführt werde. Bevor sie in den Wagen gezwängt wurde, hatte sich ihr eine unbekannte Frau genähert.

Am Mittwoch sollte Estemirowa mit Mitarbeitern des tschetschenischen Innenministeriums in das benachbarte Gebiet Stawropol fahren.

Estemirowa hatte in den vergangenen Wochen mehrfach darauf hingewiesen, dass seit der offiziellen Beendigung der sogenannten antiterroristischen Maßnahme in Tschetschenien Entführungen wieder deutlich zugenommen hätten. Im April hob der Kreml als Zeichen der endgültigen Stabilisierung in der Region die Einschränkungen des Sonderregimes auf. Damit ging die Verantwortung für Recht und Ordnung in der Region an die Behörden der Kaukasusrepublik über.

Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow genießt als Statthalter Moskaus großes Vertrauen im Kreml. Im Gegenzug für seine Loyalität gegenüber Moskau erhielt Kadyrow in der Republik das Recht, nach eigenem Gutdünken zu walten und zu schalten. Der junge Präsident herrscht über die Region wie ein Sultan und versucht, seinen Machtbereich auch auf andere Republiken des Nordkaukasus auszuweiten.

Die Arbeit der Menschenrechtlerin war den Machthabern in Grosny seit je ein Dorn im Auge. Sie arbeitete für die NGO Memorial seit 2000 in Grosny. Im zweiten Tschetschenienkrieg hielt sie Menschenrechtsverletzungen aller am Tschetschenienkrieg beteiligten Seiten fest.

Erst Anfang dieser Woche veröffentlichte Estemirowa einen Bericht über eine Aktion der Rache tschetschenischer Ordnungskräfte an einer jungen Tschetschenin, wonach Mitarbeiter des tschetschenischen Sicherheitsapparats im Juli das Haus der Familie Junusow angezündet hatten, weil die Tochter mit einem bekannten islamistischen Rebellen verheiratet war. Der Mann wurde bei einer Säuberungsaktion Anfang Juli getötet. Einige Tage nach der Brandstiftung übergaben die Sicherheitskräfte der Familie den Leichnam der ermordeten Tochter mit der Aufforderung, sie „ohne Lärm“ zu beerdigen.

Estemirowa war für ihre Arbeit mehrfach international ausgezeichnet worden. 2005 erhielt sie den Robert-Schumann-Preis des Europäischen Parlaments und 2007 den Anna-Politkowskaja-Preis. Die bekannte Journalistin, die sich mit engagierten Reportagen aus dem Tschetschenienkrieg einen Namen gemacht hatte, wurde 2006 von tschetschenischen Häschern in Moskau hingerichtet.

KLAUS-HELGE DONATH