Interview Militärdiktatur Argentinien: "Die Aufarbeitung ist unumkehrbar"

Ein Interview mit dem Menschenrechtsanwalt Rodolfo Yanzón zur Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur. Am 6. Oktober beginnt der Prozess zum ehemals größten Gefangenenlager in Buenos Aires.

Menschenrechtler halten Bilder des vermissten Ex-Senators Guillermo Vargas Aignasse. Bild: dpa

taz: Herr Yanzón, während der Militärdiktatur sind in Argentinien tausende Menschen spurlos verschwunden. Die Täter blieben lange straffrei. Heute beginnt der Prozess im Fall eines der symbolträchtigsten Gefangenenlager der Diktatur, der ESMA. Kommt die juristische Aufarbeitung also voran?

Rodolfo Yanzón: Am 6. Oktober beginnt das Anhörungsverfahren gegen mehr als 20 Angeklagte wegen Menschenrechtsverbrechen in der ESMA, der Mechanikerschule der Marine. Dort war das größte geheime Haft- und Folterzentrum in der Hauptstadt Buenos Aires. Dort sind mehr als 5.000 Menschen gefoltert worden und bis heute verschwunden. Im Fall ESMA wurde bisher nur dem früheren Marineangehörigen Héctor Febres der Prozess gemacht. Er nahm sich vier Tag vor der Urteilsverkündung mit Gift das Leben oder wurde beseitigt, das ist ungeklärt. Deshalb gab es bis heute keine Verurteilung wegen der ESMA.

Der ESMA-Prozess ist einer von drei sogenannten Megacausas. Was ist damit gemeint?

Während der Militärdiktatur (1976-1983) verschwanden in Argentinien rund 30.000 Menschen spurlos oder wurden nachweislich ermordet. Im August 2003 hob das argentinische Parlament die Amnestie auf, die auf Druck der Militärs 1986/87 ergangen war und ihnen weitgehende Straflosigkeit garantierte. In ihrem Jahresbericht notiert die Menschenrechtsorganisation CELS, dass es 2008 zu 30 Verurteilungen und zwei Freisprüchen von Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen kam. Gegen 1.300 Personen wird ermittelt oder sind die Gerichtsverfahren eingeleitet. 400 der Angeklagten sitzen in U-Haft. (juevo)

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Rodolfo Yanzón, 48, ist Rechtsanwalt in Buenos Aires und Präsident der Stiftung Argentinischen Liga für die Menschenrechte, in der er vor allem im Bereich des Rechtsschutzes für politische Gefangene sowie für die Opfer der Diktatur und deren Angehörige zuständig ist.

Die Megacausas fassen die tausenden von kleinen und großen Verbrechen zusammen, die etwa in einem geheimen Gefangenenlager an der Tagesordnung waren und die in nun einem einzigen Prozess untersucht werden sollen. Im Februar 2009 begann das Anhörungsverfahren gegen 90 Personen wegen der Menschenrechtsverletzungen in den Lagern des Ersten Heerescorps. Am 26. Oktober beginnt das Verfahren im Fall der Verbrechen auf dem Militärgelände Campo de Mayo, Provinz Buenos Aires. Dann wird auch der letzte Juntachef, Reynaldo Benito Bignone, auf der Anklagebank sitzen.

Die beiden Amnestiegesetze, die den Militärs Straffreiheit garantierten, wurden im August 2003 annulliert. Warum arbeitet die argentinische Justiz so langsam?

Der Justizapparat war 2003 auf diese komplexen Fälle nicht vorbereitet und nicht fähig, die Straftaten zu verfolgen. Die Regierung schuf damals nicht die nötige juristische Struktur, um die Verfahren wirklich voranzubringen. Hinzu kamen Widerstände im Justizapparat, in dem noch immer alte Seilschaften aus der Zeit der Militärdiktatur aktiv waren und sind. Richter und Staatsanwälte, die dagegen waren, dass diese Fälle neu aufgerollt werden, verzögerten die Verfahren oder weigerten sich, die Fälle zu übernehmen. Ohne kontinuierlichen Druck der Menschenrechtsorganisationen hätte sich kaum etwas bewegt.

Doch schon am 1. September 2003 beschlossen einige Bundesgerichte, die Verfahren wieder aufzunehmen, die mit den Amnestiegesetzen 1986/1987 geschlossen worden waren.

Richtig. Doch nach sechs Jahren ist die Bilanz nicht nur positiv. Immerhin meldeten sich viele Familienangehörige und Überlebende als Kläger. Das war wichtig im Kampf gegen die Straflosigkeit. Das Hinauszögern der öffentlichen Anhörungen durch die Militärs und mit ihnen verbündeter Richter ist offensichtlich. Ohne öffentliche Anhörungsverfahren gibt es kein Urteil. Das hat sich geändert. Dazu trug bei, dass die bremsenden Richter in der Obersten Strafkammer ausgetauscht wurden.

Kommt den Kirchner-Regierungen nicht doch ein entscheidendes Verdienst daran zu?

Die Aufhebung der Amnestiegesetze ist das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit von Menschenrechtsgruppen wie auch der juristischen Verfolgungen der Verantwortlichen in Europa. Néstor Kirchner hatte ein feines Gespür dafür, als er 2003 sein Amt antrat. Es wird in den Geschichtsbüchern als sein Erfolg eingehen. Sollten die Kirchner-Regierungen abgelöst werden, gehen die Verfahren weiter. Die juristische Aufarbeitung ist so weit fortgeschritten, dass die Entwicklung nicht mehr umzukehren ist.

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