Neuer Anlauf zu einer Verfassungsreform

TÜRKEI Die AKP unter Premier Erdogan legt Entwurf für ein neues Grundgesetz vor. Anstatt Bürgerrechte zu stärken und die Rechte von Minderheiten anzuerkennen, geht es vor allem um Verfahrensfragen

ISTANBUL taz | Zum zweiten Mal in ihrer knapp achtjährigen Regierungszeit versucht sich die islamische AKP mit Ministerpräsident Tayyip Erdogan an der Spitze an einer großen Verfassungsreform. Im Jahr 2006 hatte Erdogan bereits eine komplett neue Verfassung ausarbeiten lassen, scheiterte aber am Widerstand der Opposition und etlicher gesellschaftlicher Gruppen. Dabei ist allen klar, dass die Türkei eine neue Verfassung braucht. Das geltende Grundgesetz stammt von 1982 und wurde unter der damaligen Militärdiktatur nach den Vorstellungen der Militärs ausgearbeitet und per scheindemokratischer Volksabstimmung durchgesetzt. In einer neuen Verfassung müssten die Rechte der Bürger gegenüber dem Staat gestärkt und die Rechte der ethnischen und religiösen Minderheiten anerkannt werden.

Davon ist in dem neuen Paket der Regierung nur wenig zu spüren. Es geht der Regierung vor allem um Verfahrensfragen, die ihre Arbeit erleichtern sollen. Bisher scheiterten viele Vorhaben am Verfassungsgericht, das überwiegend mit Leuten aus dem säkularen, kemalistischen Lager besetzt ist und der Regierung feindlich gegenübersteht. Die Änderung der Verfassung ist deshalb Teil einer Justizreform, die es der Regierung ermöglicht, den Richterwahlausschuss und das Verfassungsgericht so zu besetzen, dass ihre Anhänger eine Mehrheit haben.

Das zweite große Anliegen ist es, Parteiverboten einen Parlamentsvorbehalt vorzuschalten. Die AKP war bereits mit einem Verbotsverfahren konfrontiert und will das künftig ausschließen. Der Entwurf sieht vor, dass das Parlament zustimmen muss, bevor ein Verbotsantrag gegen eine Partei vor Gericht landet. Das hat den Vorteil, dass Verbote kleiner Parteien nach wie vor möglich sind, Regierungsparteien wie die AKP aber ein Verfahren, das sie selbst betrifft, stoppen können. Eine weitere Änderung könnte die Möglichkeit schaffen, Kopftücher an staatlichen Universitäten zu erlauben.

Als Anreiz für die Opposition, zuzustimmen, soll der Passus, der den Putschgenerälen von 1980 Straffreiheit zusichert, gestrichen werden. Die Opposition, einschließlich der kurdischen BDP, hat angekündigt, gegen den Entwurf zu stimmen. Die Kurden sind enttäuscht, dass ihre Forderung, neben den Türken auch die Kurden als Gründungsnation der Republik anzuerkennen, nicht berücksichtigt wird. Damit ist die nötige Zweidrittelmehrheit nicht zu erreichen.

Es gibt jedoch die Möglichkeit, dem Präsidenten das Paket vorzulegen, wenn eine qualifizierte Mehrheit, über die die AKP verfügt, zustimmt. Der Präsident kann dann eine Volksabstimmung anberaumen. Auf diesem Weg hofft die AKP, ihr Verfassungspaket durchsetzen zu können. JÜRGEN GOTTSCHLICH