Studieren ohne Scheuklappen

KOLUMBIEN Mehr als 150.000 Studierende protestieren gegen die Bildungsreformpläne der Regierung in Bogotá. Der konservative Präsident Juan Manuel Santos lenkt ein

VON JÜRGEN VOGT

BUENOS AIRES taz | Zu Tausenden kamen sie zur „Toma de Bogotá“. Mit der symbolischen Besetzung der Hauptstadt hat der Streik von Kolumbiens Studierenden einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Veranstalter sprachen von über 200.000 Teilnehmenden, die Behörden von 150.000. Auch in anderen Universitätsstädten wie Cali und Medellín zogen am Donnerstag Studierende durch die Straßen.

Noch am frühen Morgen hatten die Sicherheitskräfte in Bogotá gewarnt, Farc-Guerilleros könnten sich unter die Demonstranten mischen. Gegen 10 Uhr zogen die Protestierenden zur Plaza de Bolívar, auf der am frühen Nachmittag die Abschlusskundgebung im Regen stattfand.

Seit Monaten wehren sich die Studierenden gegen eine Reform des Bildungsgesetzes. Vorgesehen ist eine Umschichtung der staatlichen Ausgaben, was zwar eine Anhebung der finanziellen Mittel beinhaltet, die jedoch an das jährliche Wirtschaftswachstum gekoppelt werden. Auch ist eine beträchtliche Erhöhung der Zahl der Studienplätze und eine weitgehende Autonomie der Uni vorgesehen. Nach Auffassung der Studierenden reicht jedoch das in Aussicht gestellte Geld bei der gleichzeitig veranschlagten Aufstockung der Studienplätze bei weitem nicht aus. Was die Hochschulen an Quantität gewinnen, werden sie an Qualität verlieren. Als Konsequenz fürchten die Studierenden höhere Semestergebühren. Und die zugestandene Autonomie werde viele Hochschulen lediglich dazu verleiten, sich privaten Geldgebern und Forschungszwecken zu unterwerfen, so die Befürchtungen.

Zwei Drittel der zusätzlichen Mittel würden ohnehin direkt in das staatliche Bildungskreditprogramm fließen, über das sich viele Studierende finanzieren. Wer künftig zügig und mit guten Resultaten studiert, bekomme zwar ein Teil seiner Schulden erlassen, werde aber zu einem Scheuklappenstudium im Schnelldurchlauf gezwungen.

Staatspräsident Juan Manuel Santos hatte noch am Mittwoch versucht die Toma de Bogotá zu verhindern; „Wir ziehen die Reform zurück, wenn die Studenten ihren Streik beenden und in die Hörsäle zurückgehen.“ Laut Innenminister Germán Vargas Lleras verhindere der Streik nur, dass „500.000 Studenten ihre Semester abschließen können“.

Dass die Regierung jetzt zurückrudern will, ist nicht nur dem drohenden Verlust eines Semesters für den gesamten Hochschulbereich geschuldet. Laut Juan Sebastián López vom studentischen Koordinierungsgremium Mane gibt es im Parlament auch zunehmend Vorbehalte, die Reform jetzt und in dieser Form durchzuführen. „Unser Protest hat gezeigt, dass es dafür keinen Konsens in der Bevölkerung gibt“, so López.

Präsident Santos bot erneut einen Rückzieher und Gespräche an. Dann werde man für 2012 einen neuen Vorschlag machen. Seine Erklärung sei dem Druck der Studierenden zu verdanken, so Jairo Rivera vom Koordinierungsgremium Mane. Ob die Studierenden auf Santos eingehen werden, wollen sie am Wochenende entscheiden.