Integrative Schulen: "Kinder haben noch keine Schubladen"

Jan Grünig spielt in der "Lindenstraße" ein Down-Kind. In Köln besucht er eine integrative Schule für behinderte und andere Kinder. Hier kann man lernen, aber nicht sitzenbleiben.

Jan Grünig: Fernsehstar, Dickkopf und mittlerweile Schüler. Bild: wdr/eckbert reinhard

KÖLN taz Jan Grünig sitzt mit einem riesigen Bilderbuch in der Schulbibliothek. Seine Mitschüler bekommen gerade von ihrer Lehrerin einen Text über das alte Ägypten vorgelesen. Manchmal schaut der Junge mit den kurzen blonden Haaren und der Brille zu den anderen auf. Dann vertieft er sich wieder in sein Buch. Als ein Klassenkamerad mit in Jans Buch schauen will, lehnt er ab. Der 8-Jährige möchte sein Bilderbuch für sich haben. Auch als die Lehrerin versucht, Jan zu überzeugen, bleibt er bei seiner Meinung. "Nein!", ruft er.

Üblicherweise bedeutet der Slogan "Eine Schule für alle", die zersplitterten Schulformen zusammenzuführen. Der gleichnamige Kölner Kongress setzt einen anderen Akzent: Eine Schule für alle Menschen ist hier gemeint, also für sogenannte behinderte und vermeintlich normale Schüler. Am Freitag beginnt ein Fachkongress, ab Samstagmittag ist die Tagung für die Öffentlichkeit zugänglich. Es stellen sich Schulprojekte vor, die integrativen Unterricht betreiben, Experten tragen vor und Eltern sollen die Gelegenheit zur Rechtsberatung bekommen. Denn die Eltern behinderter Kinder müssen oft ermüdende Kämpfe gegen die Schulbürokratie führen, um in integrative Schulen zu kommen.

Die Höhepunkte dürften u. a. sein: Die Podiumsdiskussion mit Walter Heilmann von der Peter-Petersen-Schule. Der Auftritt von Winfried Steinert von der integrativen Waldhofschule in Templin, die für den Deutschen Schulpreis nominiert ist. Das Referat von Hans Wocken über seine Studie, ob Förderschulen eigentlich fördern. Der Forschungsbericht von Brigitte Schumann über ihr Buch: "Ich schäme mich ja so". Und die Diskussion am Sonntag, an der Kultusministerpräsident Jürgen Zöllner (SPD) und Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) teilnehmen sollen. CIF

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"Mein Sohn ist stur", seufzt sein Vater. Jan Grünig hat das Down-Syndrom, und wie so viele Kinder mit dieser genetischen Besonderheit von Chromosom 21 ist Jan ein ziemlich eigenwilliger Kerl.

In der Peter-Petersen-Schule in Köln ist das kein Problem, sondern Alltag. Von den 420 Kindern der Grundschule sind etwa 100 Förderkinder. Das bedeutet, sie haben etwas, was die Schulbehörden als Behinderung einstufen. Die Schule in Köln-Höhenhausen besuchen körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder. Sie lernen hier alle zusammen. Eine Schule für alle.

Nur Blinde und Gehörlose werden zurzeit nicht unterrichtet. Aber auch das ginge, meint Schulleiter Walter Heilmann. Denn seine Schule beweist etwas, das für viele Menschen schwer vorstellbar ist. Dass Behinderte nicht in separierten Sonderschulen lernen, sondern in einer Schule zusammen mit nicht behinderten Kindern - und alle etwas davon haben.

Jan ist ein Dickkopf. Und ein Star. Das weiß ein Millionenpublikum, dem Jan besser als Martin Zenker bekannt ist. Denn Jan Grünig spielt Zenkers Rolle in der "Lindenstraße". Jans Eltern sind extra nach Höhenhausen umgezogen, damit Jan die Peter-Petersen-Schule besuchen kann. Seine Eltern wollten, dass Jan in einer integrativen Schule aufwächst, die gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern anbietet.

Die Petersen-Schule kann geistig behinderte Kinder integrieren, weil sie ein spezielles pädagogisches Konzept verfolgt. Altershomogene Klassen gibt es nicht. Der Unterricht findet in Gruppen statt, jahrgangsübergreifend von der ersten bis zur vierten Stufe. Die SchülerInnen einer Lerngruppe sind sechs bis zehn Jahre alt. Wie geht das? Jedes Kind bekommt einen individuellen Lehrplan. Es gibt Phasen, in denen alle Kinder gemeinsam etwas erklärt bekommen. Und andere, in denen jedes Kinder für sich arbeitet, oder solche, in denen Kinder in Teams etwas erarbeiten. 1981 richteten betroffene Eltern die Anfrage an die Schule, ob sie auch behinderte Kinder aufnehmen würde.

"Wir wussten keinen Grund, nein zu sagen", sagt Walter Heilmann, der Leiter der Peter-Petersen-Schule. "Wir haben eine lange Erfahrung mit dem, was die normale Regelschule eigentlich nicht kann: mit der Unterschiedlichkeit und der Individualität jedes einzelnen Schülers umzugehen. Dass wir damals sogenannte behinderte Kinder aufnahmen, hat unser Spektrum im Grunde nur ein wenig erweitert."

Walter Heilmann versucht keinen Unterschied zu machen zwischen Kindern mit oder ohne Behinderung. Es interessiert ihn nur, wenn es verwaltungstechnisch erforderlich ist. Aber auch der 58-Jährige musste erst lernen, nicht mit dem inneren Auge nach Behinderungen zu suchen. Beigebracht haben es ihm seine Schüler. "Kinder haben noch nicht solche Schubladen im Kopf wie wir Erwachsenen."

Zwischen hoch aufgetürmten Holzbänken tun sich Schluchten auf. Nur mit einem beherzten Sprung und einer Liane aus Seil sind sie überwindbar. Zur Sicherheit steht unter den Lianen ein Zivildienstleistender, der die kleinen Helden notfalls auffängt. Die Schüler haben die Turnhalle in eine Abenteuerlandschaft verwandelt. Jeder macht hier seins. An langen Seilen von der Decke hängen Hula-Hoop-Reifen, die als Hollywood-Schaukel dienen. Zwei Mädchen lassen sich darin sanft hin- und herwiegen. Wer hier behindert ist und wer nicht, lässt sich schwer sagen.

"Das kommt davon, wenn Sportlehrer gemeinsam mit Physiotherapeuten den Unterricht planen und durchführen", schmunzelt Walter Heilmann. In allen Fächern arbeiten Sonderschul- und GrundschullehrerInnen in Teams zusammen. Jede Gruppe wird von zwei PädagogInnen, häufig einen Zivildienstleistenden und PraktikantInnen betreut. Das ist nötig wegen der individuellen Betreuung - aber es schafft auch manchen Freiraum. "Wir bekommen nicht mehr Mittel als andere Schulen", sagt Heilmann. "Entscheidend ist, was wir daraus machen." Was der Rektor meint: Wenn eine Sonderpädagogin dauerhaft in einer Lerngruppe sein kann, dann verändert das schlagartig die Atmosphäre und die Förderbedingungen - für alle Schüler.

Jan Grünigs Eltern haben um die Petersen-Schule gekämpft. Und sie haben auch in der Petersen-Schule gekämpft. Sie wollten, dass Jan mehr Betreuung bekommt. Vater Frank Grünig klagte sogar gegen das Land NRW, um eine bessere Begleitung seines Sohnes in der Schulzeit finanziert zu bekommen. "Wir haben den Prozess verloren. Das war abzusehen", sagt er. "Es ging uns aber auch darum, medienwirksam auf die Probleme bei der schulischen Integration von behinderten Kindern aufmerksam zu machen." Das Problem besteht darin, dass es für behinderte Kinder 1,3 Lehrerwochenstunden zusätzlich gibt - wenn sie eine Förderschule besuchen. Sind sie wie Jan Grünig aber an einer normalen Schule, ist ein solches Kind aber nur noch 0,2 Stunden zusätzlich wert. "Glücklicherweise unterstützt uns die Stadt Köln", sagt Heilmann.

Inzwischen wenden sich viele Eltern an die Peter-Petersen-Schule. Oft haben ihre Kinder eine Odyssee durch das gegliederte Schulsystem hinter sich. Es gibt Fälle wie den von Michael*, den eine Sonderschule für Lernbehinderte und eine für sprachliche Beeinträchtigungen hin- und herschoben. Die eine sah die sozialen Defizite als behindernd an, die anderen die sprachlichen. Solche Fälle gibt es oft. Insgesamt finden sich in Deutschland offiziell neun verschiedene Typen von Förderschulen. "Sogenannte Förderschulen", betont Walter Heilmann. Denn dass dort gefördert wird, stellen Untersuchungen in Zweifel. Hans Wocken, ein Erziehungswissenschaftler, der Förderschulen untersucht hat, nennt die Lernatmosphäre in diesen Schulen "kognitive Friedhofsruhe". Ein bisschen geht so auch Michaels Geschichte: An den Förderschulen kam er nicht unter, an der Petersen-Schule kommt er weiter.

Im Treppenhaus springen ein knappes Dutzend Kinder über Stufen. Ein Junge steht auf der siebzehnten Stufe, geht vier Stufen hinab und weiß dann, was bei 17 minus 4 herauskommt. Denn die grauen Absätze sind mit großen weißen Zahlen durchnummeriert. Die jüngeren Kinder werden von älteren begleitet, die das Prinzip der Rechentreppe erklären. Was aber haben die 10-jährigen und die hochbegabten Kinder von dem altersheterogenen Modell?

"Auf diese Frage habe ich gewartet", sagt Walter Heilmann. Lernen sei dann am wirksamsten, meint er, wenn sich die Kinder selbständig etwas erarbeiten. "Das hat eine eigene Qualität", sagt er. "Aber wenn die Schüler es dann an jüngere weitergeben müssen, dann ist das noch mal eine Stufe drüber."

Die Petersen-Schule ist nicht ganz normal. Der Schulhof wird von einer kleinen Schafherde bevölkert. Die Kinder füttern die Tiere, misten den Stall aus und verarbeiten die Wolle. Und sie erleben hier die Geburt der kleinen Lämmer im Frühling. Sitzen bleiben kann man auch nicht. Viele Kinder möchten gern ein fünftes Jahr bleiben, dürfen aber nicht. "Sitzen bleiben ist für Kinder eine Katastrophe", meint der Rektor. Mit einem Schlag werden sie aus ihren Lernbezügen gerissen - und aus ihren sozialen Zusammenhängen.

Nach Köln-Höhenhausen kommen viele Besucher. Interessierte Pädagogen aus ganz Deutschland und auch aus den Niederlanden, in denen viele Schulen nach den Ideen von Peter Petersen arbeiten, wollen sehen, wie eine Ganztagsschule mit altersgemischten Gruppen und integrativem Ansatz funktioniert. Vor einigen Monaten war sogar Nordrhein-Westfalens Schulministerin Barbara Sommer (CDU) da. Die Politikerin, sonst eine glühende Verfechterin des dreigliedrigen Schulsystems, zeigte sich angetan. Nicht anders ist es mit den Leistungen der Schule. Bei Vergleichsarbeiten liegen die Petersen-Schüler über dem Landesdurchschnitt. Die Schule hat auch den Innovationspreis der Industrie-und- Handelskammer mehrfach gewonnen.

Und was lernt Jan Grünig, der manchmal so dickköpfig ist? Im Umgang mit den anderen Kindern lernt er beides: sich durchzusetzen und sich einzuordnen. Sozialverhalten könne er, sagt sein Vater, am besten zusammen mit Nichtbehinderten erlernen. An einer Schule für alle.

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