Das Ende eines Traums

Heute vor 20 Jahren starb Klaus-Jürgen Rattay nach der polizeilichen Räumung von acht besetzten Häusern in Berlin. Parallel zur Hausbesetzerbewegung waren Videogruppen entstanden, die die Ereignisse aus Sicht der Besetzer dokumentierten

Er filmte im Rennen, auch den Bus, der eine schwarze Masse vor sich herschob

von ECKART LOTTMANN

Es regnet in Strömen. Ich suche auf dem Bürgersteig vor der Commerzbank-Filiale in Berlin-Schöneberg, Potsdamer Straße Ecke Bülowstraße. Es ist noch da: Ein Kreuz aus Beton, es nimmt den Platz von vier dafür rausgenommenen Gehwegplatten ein. Eingekritzt in den Beton: „22. 9. 81“, darunter: „Klaus-Jürgen Rattay“. Hier ist er gestorben, ein 18-Jähriger aus „Westdeutschland“, Lehre abgebrochen, nach Berlin gekommen wegen der Hausbesetzer. Rattay wurde von der Polizei in den Verkehr getrieben, überfahren von einem BVG-Bus. Der schleifte ihn mit, über zwanzig, dreißig Meter. Eine Super-8-Kamera hat es damals gefilmt.

Es war der Tag, an dem der damalige Innensenator Heinrich Lummer (CDU) acht besetzte Häuser auf einen Schlag räumen ließ. In der Nacht darauf regierte die Wut. Steine, Mollies, Tränengas. Es war das Ende eines Traums: Dass man sich leer stehende Häuser nehmen kann, sie halten kann gegen das Profitinteresse und was Eigenes daraus machen.

Ich arbeitete in der „Medienoperative Berlin“, einem Medienzentrum, das wir 1977 zu viert gegründet hatten. Damals kam ein neues Medium auf: Video, ursprünglich nur zu Überwachungszwecken entwickelt. Wir machten „alternative Medienarbeit“ – durchaus auch mit „Senatskohle“, zum Beispiel Videoprojekte im Jugendbereich, oder dokumentierten das Modellprojekt zur bewohnerorientierten Stadterneuerung, das der Bausenat unter dem Titel „Strategien für Kreuzberg“ Ende der Siebzigerjahre startete.

Was wir ohne „Senatskohle“ machten, nannte sich „Gegenöffentlichkeit“. Etwa Videos für die Bürgerinitiative gegen den Bau der „Westtangente“ – einer geplanten und bis heute nicht gebauten Stadtautobahn quer durch Berlin. Oder wir schnitten Material über die Demonstrationen gegen Atomkraftwerke zusammen. Als im Herbst 1980 in Berlin zunehmend leer stehende Häuser besetzt wurden, waren wir mit unseren Kameras auch dabei.

In allen größeren Städten gründeten sich damals Videogruppen, die Öffentlichkeit „von unten“ schaffen wollten. Die Beiträge waren sehr roh, wortlastig, unsauber gedreht. Aber sie passten zu einer Aufbruchstimmung. Sie liefen in den besetzten Häusern, in Stadtteilcafés, in Kneipen mit politischem Anspruch. Man war fasziniert, sich auf dem Bildschirm zu sehen, und man wollte im Kiez zeigen, was man machte. Selten waren nämlich junge Berliner so konstruktiv wie zu dieser Zeit.

Video dokumentierte die neue Häuslichkeit: Besetzer bauten Badezimmer, vergrößerten Räume, gründeten Cafés – natürlich ohne offizielle Schankerlaubnis. Verwitterte Fassaden wurden neu gestrichen, gerne mit Wandbildern und politischen Parolen.

Wir filmten die Renovierungsarbeiten. Und die abendliche Randale, wenn die Polizei ein Haus geräumt hatte oder, Gerüchten zufolge, räumen wollte. Wenn „die Bullen“ nicht kamen, bauten die Militanten Barrikaden aus Müllcontainern und Baugerüsten, dann mussten die nämlich kommen. Manchmal verhinderten allerdings die friedlicheren Besetzer den Barrikadenbau.

Der Winterfeldtplatz in Schöneberg war häufig das Areal für nächtliche Auseinandersetzungen mit der Polizei. Wir hielten dann die Schwarzweißkamera, die besonders lichtempfindlich sein sollte, auf das Geschehen. Mal griff ein Trupp Vermummter mit Steinen die Polizei an, mal schlug die zurück. Zu sehen war auf den Bändern meist nicht viel: Huschende Schatten, Lichtreflexe auf Polizistenschildern. Aber der Ton war um so dramatischer.

Nachts zu drehen war nicht ohne Risiko. Einmal ging die Kamera zu Bruch, ein Beamter schlug einfach mal zu, im Vorübergehen. Bei Konfrontationen zwischen Polizisten und Demonstranten, die tagsüber passierten, hatten wir öfter das Gefühl, dass die Anwesenheit der Kamera verhinderte, dass besonders gestresste Beamte ausrasteten.

Wir drehten Bilder in besetzten Häusern, befragten Besetzer über ihre Pläne und die der Eigentümer und schnitten unsere Aufnahmen in Abständen von ein paar Wochen zusammen. Kneipen liehen sich Filme und Abspielgeräte aus, die Verleihmiete bezahlten sie aus ihren eigenen Einnahmen, oder sie sammelten im Kneipenpublikum. Unsere Wochenend-Videokurse waren gut besucht. Mit einigen Videomachern in der Stadt gab es Kooperationen. So drehte beispielsweise Petra Goldmann mit unserer Technik den Videofilm „INge STAND und BErta SETZER“ über Frauen in einem besetzten Haus.

Wenn ich nachts nach Hause fuhr, in den östlichsten Winkel Kreuzbergs, sah ich oft schon die Mannschaftswagen der Polizei geparkt in der Skalitzer Straße. Ich hielt am „Kottbusser Tor“ und ging mal gucken. Kollegen von der Presse waren meist schon da, taz-Fotografen, Hörfunkreporter. Kuno Haberbusch kannte sich aus in der Szene, er führte Stefan Aust herum. Aust war damals beim Fernsehmagazin „Panorama“ (NDR), wo dann auch Haberbusch landete. Man lachte und rauchte eine. Dann plötzlich sahen wir irgendwo Leute rennen, Polizei, Schreien. Die Blitze der Kameras, der Scheinwerfer eines Fernsehteams. Meist schleppten dann Polizisten einen Mann weg. Und Fotografen, die zu eng herandrängten, kriegten auch mal einen Schlag in die Seite.

Wohl nie zuvor spielten die Medien in einer gesellschaftlichen Konfliktsituation eine so große Rolle. Durchaus lustvoll erfuhren die Besetzer und ihre Sympathisanten das spannende Verhältnis zwischen Aktion und Abbildung.

Besonders deutlich wurde das nach einer Demonstration im Sommer 1981: Der militante Teil der Demonstration wollte in die Bannmeile um das Schöneberger Rathaus dringen, die Polizei verschoss Tränengas, und die Demonstranten begannen, nahe gelegene Schaufenster einzuwerfen. Ein Fernsehteam des SFB filmte. Am frühen Abend drängten plötzlich etwa fünfzig junge Leute in die Räume der „Medienoperative“ – sie wollten die „Abendschau“ des SFB sehen und quittierten dann die Bilder von ihrer Randale mit begeistertem Beifall.

Die „Medienoperative“ war nicht Teil der „Szene“, sie war eine Art sympathisierender „Dienstleister“, der seine Geräte und Videos gegen Geld verlieh, wenngleich auch meist zu sehr geringen Beträgen. Immerhin war das Vertrauen da, dass unsere Aufnahmen nie von Polizei oder Gericht verwertet würden.

Je mehr der Druck auf die Besetzerbewegung zunahm, desto klarer wurde auch, dass die Hausbesetzer Verbündete brauchten in der Bevölkerung. Viele Besetzer gingen nun verstärkt an die Öffentlichkeit, organisierten Lesungen, Ausstellungen, Konzerte. Und Videovorführungen.

Als am Morgen des 22. September ein Baufahrzeug die Tür des besetzten Hauses Winterfeldtstraße 20 auframmte, klebte dort ein Plakat der „Medienoperative“. Und Gerhard Schumacher filmte den Polizeieinsatz mit tödlichen Folgen in der Bülowstraße. Er filmte im Rennen, er filmte auch den Bus auf der Potsdamer Straße, der eine schwarze Masse vor sich herschob. Es war Klaus-Jürgen Rattay.

In der Nacht nach Rattays Tod flogen viele Steine, es gab viele Verletzte. An der Stelle, wo Rattay getötet wurde, war es friedlich. Blumen lagen da, Kerzen brannten neben einem Holzkreuz. Dann kam die Polizei, warf Tränengas auf die Sitzenden, vertrieb sie unter Knüppeleinsatz. Nicht nur einmal. Auch davon gibt es Aufnahmen.

Die Bilder von Rattays Tod wurden von „Panorama“ gesendet. Der Super-8-Film ging aber auch durch die Szene. Die „Medienoperative“ schnitt ein Video aus all den Materialien dieses Sommers, das in vielen Städten gezeigt wurde. Es wurde – für ein Video damals sehr ungewöhnlich – auch für das renommierte Duisburger Dokumentarfilmfestival ausgewählt.

Das Projekt „Gegenöffentlichkeit“ ging weiter, fand nach dem Ende der Hausbesetzerbewegung noch ein paar andere Themen. Bis auch diese sich erledigt hatten.

Eckart Lottmann erstellte 1993 aus den Aufnahmen der 80er-Jahren und aktuellen Interviews mit sechs der Hausbesetzer den Dokumentarfilm „Der Traum vom rechtsfreien Raum“. Drei der Interviewten leben auch heute noch in den damals besetzen Häusern. Einer starb 1995, eine lebt in New York, den sechsten hat der Filmemacher nicht mehr wiedergefunden.Der SFB sendet den Dokumentarfilm „Der Traum vom rechtsfreien Raum“ am kommenden Mittwoch (26. September) um 23 Uhr 45.