Die Chefin des verwunschenen Gartens

„Wünsch Dir was“ heißen die Werkstatt und der Spielgarten von Ursula Wünsch. Seit 1971 entwickelt sie an der Mulackstraße Spielmittel und probiert sie mit Nachbarskindern aus. Sie beobachtet die Veränderungen im Kiez – auch an den Kindern

VON FRAUKE ADESIYAN

„Frau Wünsch, wozu sind die Steine da?“ „Wer hat das gebaut, Frau Wünsch?“, „Was sind das für Pilze?“ Ursula Wünsch sitzt in ihrem Garten und beantwortet geduldig alle Fragen von Finn und Lilly. Die Kinder sind Besucher des Spielplatzgartens „Wünsch Dir was“ in der Mulackstraße. Sie kommen regelmäßig, Ursula Wünsch kennt ihre Namen, ihre Eltern und ihre Geschichten. Die studierte Spielmitteldesignerin ist für die Kinder vieles in einem. Gärtnerin könnte man sie nennen mit ihren wuchernden Blumenbeeten. Zauberin, wenn sie mit den Kindern auf dem fliegenden Teppich in eine Traumwelt fliegt. Oder Lehrerin, wenn sie immer wieder nachhakt: „Was bedeutet ein rot-weißes Band?“, „Wie viel Flügel hat ein Vogel?“

Den Spielgarten hat Wünsch Anfang der 90er-Jahre selbst auf einer Brache neben ihrer Werkstatt angelegt. Sie hat die spinnenartige Seilschaukel aufgestellt und ein Strauchiglu gepflanzt. Offiziell gehört das Grundstück der Stadt, die das Gelände mittlerweile als Spielplatz ausgewiesen hat. Aber Wünsch ist bis heute die unangefochtene Chefin des wuchernden Gebüschs – zumindest für die Kinder der Nachbarschaft.

Momentan macht sich Wünsch allerdings mehr Sorgen um die Spatzen, die in der zugewachsenen Wand des nächsten Gebäudes nisten. Der Besitzer will das Haus sanieren, zum 1. August müssen die Spatzen einem Gerüst weichen. „Ich hab schon alle möglichen Leute angerufen, den Artenschutzbeauftragten und das Gartenamt. Der Eigentümer will doch sicher nicht zum Spatzenmörder von Berlin werden.“ Ihre grün-braunen Augen funkeln, sie lächelt entschlossen und doch mädchenhaft. Nur die grau gesträhnten Haare verweisen auf ihr Alter, sie ist 58. Die glänzenden Kullern an ihrer Kette sind genauso bunt wie die Holzfiguren und Wimpel im Baum hinter ihr.

Als Kind wollte Ursula Wünsch Lehrerin werden. Wegen einer teilweisen Stimmbandlähmung wurde sie nicht für den Studiengang zugelassen. Inzwischen hat sie sich selbst zur Lehrerin gemacht, an einer Schule, die auf intakte Stimmbänder keinen Wert legt – für die Kinder vom Mulack-Kiez. „Ich will die kleinen Egoisten, die hier zu mir kommen, an die Gesellschaft heranführen. Ich sage den Kindern immer: Wir sind ein großer Kreis und keiner ist in der Mitte.“ Sie möchte ihren Besuchern geben, was sie in ihrem Kiez ansonsten verpassen. Häufig kommen Einzelkinder zu ihr und solche, die nur von einem Elternteil erzogen werden. Viele haben zwar einen Hamster, aber die freie Natur kennen sie nicht. Die Kinder werden in einer Straße groß, in der sanierter Stuck an Metalllamellen von Neubauten grenzt. Hier verkaufen Designer Rugwear statt Teppiche und anstelle von Bäumen stehen orange angesprühte Kunstwerke am Straßenrand. „Ich will, dass die Kinder den Jahresablauf kennen lernen, deshalb grabe ich mit ihnen Kartoffeln ein und säe Vogelfutter aus“, erzählt Wünsch.

Nur ausschnittsweise sind die Passanten durch das dichte Grün der Blätter zu sehen. Einige dort draußen, Anwohner und Eltern, werfen Ursula Wünsch Blockwartmanieren vor. Sie lächelt darüber. „Bei mir gibt es keine Strafen oder so. Ich möchte einfach einen Bezug zur Realität bewahren.“ Dazu gehören zum Beispiel die Grundsätze, dass nichts weggeschmissen wird und Kekse geteilt werden. Das müsse man den Kindern erst beibringen, obwohl es doch eigentlich ganz normale Werte wären, wundert sich die Designerin.

Ursula Wünsch ist seit 34 Jahren in der Mulackstraße und beobachtet die Veränderungen im Kiez und der Bewohner. „Es kommt mir so vor, als wenn sich die Kinder heute viel mehr zur Wehr setzen müssen. Das Zusammenspielen klappt nicht mehr wie damals“, beschreibt Wünsch die Entwicklung. Sie wünscht sich, dass die Kinder lernen, dass manche Dinge Zeit brauchen.

Ähnlich geht sie mit den neuen Geschäftsleuten um, die hier Designerklamotten, Schmuck und Möbel verkaufen. Die hippe Szene der Mulackstraße nimmt die Alteingesessene nicht wirklich ernst. „Letztens hat mir die Verkäuferin von gegenüber gesagt, dass sie sich das japanische Seidenkleid in ihrem Schaufenster selbst nicht leisten kann. Das relativiert doch so einiges.“ Sie rät den Neuen: „Haltet es erst mal 34 Jahre hier aus wie ich.“

Das wäre heutzutage sicherlich einfacher als 1971. Damals zog Ursula Wünsch in die Ladenwohnung der Mulackstraße 11. „Dunkel, mit Ofenheizung und Toilettenüberschwemmung – ich habe diese Mulackstraße gehasst“, empört sie sich über den damaligen Zustand und lächelt doch über die damaligen Mitbewohner: „Ab und zu hat die alte Frau Schröder von oben mit dem Besenstil gekloppt. Da bin ich dann hoch und es gab einen Schnaps.“ Irgendwann wollte die alte Frau Schröder nicht mehr leben, wusste aber nicht, wohin mit der Katze. „Da habe ich sie genommen und nach 14 Tagen war Frau Schröder tot.“

Seither kümmert sich Ursula Wünsch um jede Katze, die sich zu ihr verirrt. Allein deshalb muss sie täglich in die Mulackstraße, auch wenn sie schon lange nicht mehr dort wohnt. „Ein bisschen entsetzt bin ich schon, wie man sich so auf einen Ort festlegen lässt“, lacht sie leise.

Ein Mädchen kommt mit seiner Mutter vorbei. „Hallo Aliyah, wann kommst du denn in die Vorschule?“, ruft Ursula Wünsch schon von weitem. Aliyah berichtet aufgeregt, ihre Mutter setzt sich in den Schatten. Aus ihrer Tasche kramt sie Zettel hervor und klebt sie auf den großen Gartentisch. „Maniküre, Pediküre … rufen Sie mich an“, steht darauf. „Wünsch Dir was“ gilt auch für die Eltern.