„Hauptschüler sind keine Rebellen“

Brigitte Pick war 22 Jahre Leiterin der Rütli-Schule. Ihre Sicht auf die Probleme der Hauptschule und die vom Rütli-Kollegium angestoßene Debatte hat sie nun in einem Buch aufgeschrieben. Sie setzt auf engagierte Lehrer – und eine andere Pädagogik

INTERVIEW ALKE WIERTH

taz: Frau Pick, es gibt zwei historische Stränge, an die Sie in Ihrer Pädagogik anknüpfen: die linke Vergangenheit Neuköllns und die Reformschultradition der Rütli-Schule. Beim Lesen Ihres Buchs entsteht der Eindruck, dass das funktionierte, bis die Migranten kamen. Stimmt das?

Brigitte Pick: Nein. Man muss vielleicht mit Migrantenkindern anders arbeiten als mit deutschen. Für mich war der Begriff Multikulti nie schlüssig, weil er im Grunde genommen ja abgrenzt: Wir sind alle so anders. Aber man muss doch fragen, was uns verbindet. Das kann man wunderbar am Beispiel der monotheistischen Religionen machen. Deren Ideologie ist im Grunde immer die gleiche, wie die Logik des Kapitalismus: Du bist selbst schuld, und im Paradies wird alles ganz wunderbar, also ertrage dein Schicksal auf Erden und du wirst belohnt. Das ist doch toll.

Was ist daran toll?

Das hat doch bei den Rütli-Kindern funktioniert: Wir haben ihnen gesagt, Krawall ist nicht gut. Und jetzt kann man in den Zeitungen wieder wunderbar angepasste Zitate von ihnen lesen: „Erst hatte ich Angst, dass ich als Rütli-Schülerin Probleme bei der Jobsuche bekomme. Aber jetzt nicht mehr. Wir werden dabei so gut von den Lehrern unterstützt“, sagte beispielsweise ein libanesisches Mädchen, an das ich mich noch gut erinnern kann. Und sie meint das auch so und hat auch noch Ehrgeiz – und ich wünsche ihr auch, dass sie es schafft. Diese Ideologie vermittelt Schule eben: Gib’ dir richtig Mühe, dann wird es schon gelingen. Aber es gibt auch welche, die das durchschauen. Viele Jungen zum Beispiel.

Wünschen Sie sich die SchülerInnen etwas rebellischer?

Hauptschüler fallen durch Rebellentum nicht auf. Und das ist auch keine Frage der ethnischen Herkunft. Im Grunde genommen sind die Migrantenjugendlichen doch auch angepasst. Sonst hätte man die ja so schnell gar nicht wieder einfangen können. Was ist denn bei all dem Rütli-Terror eigentlich abgelaufen? Die Lehrer haben gesagt: Wir können nicht mehr. Man hätte vermuten können, dass die Jugendlichen sagen: Was passiert denn hier mit uns? Aber: Nein! Und wenn sie heute befragt werden, ist alles wieder heile Welt.

Das klingt, als täte Ihnen das ein bisschen leid.

Ich sage das, damit mal zur Kenntnis genommen wird, dass da eigentlich eine ganz große Toleranzschwelle da ist. Sonst würde sich das doch nicht immer wieder so fügen. Das stelle ich nur fest, das beurteile ich gar nicht. Wenn uns jetzt arabische oder türkische Schüler als Schweinefleischfresser bezeichnen, dann muss man auch mal sehen, dass sie jahrzehntelang und noch heute als Knoblauchfresser, Kameltreiber, Kanaken betitelt wurden. Und das haben sie lange relativ still erduldet.

In der Bildungsdebatte wird aber oft Migranten die Schuld an den Problemen gegeben.

Na, weil Sie da einen Sündenbock haben. Und weil man so vermeiden kann, wirklich mal über Schule nachzudenken. Das ist ein bisschen wie in dem Brecht-Zitat, dass nicht die Regierung, sondern das Volk das falsche ist. Natürlich muss man Einstellungen hinterfragen. Aber wenn Sie Menschen nur mit Ablehnung oder gar Verachtung entgegentreten, dann werden Sie ein entsprechendes Echo bekommen. Mir hat mal ein alter Schulrat gesagt: Das Herz eines Pädagogen muss links schlagen. Und der Mann hat Recht.

Warum?

Weil zum Linkssein auch ein Menschenbild dazugehört. Ich kann beispielsweise als Linker die Gewaltfrage nicht als ethnisches Problem darstellen.

Ihr Bezug zu den 68ern und die damalige Stimmung unter jungen linken Lehrern spielt in dem Buch eine große Rolle. Mit welchen Vorstellungen sind Sie damals an die Schule gegangen – und was war das Feindbild?

Feindbild – also so schwarz-weiß habe ich dann doch nie getickt. Und dass wir Rezepte für neue Schulen in der Tasche gehabt hätten, kann ich auch nicht sagen. Spannend war für uns das damals neue Fach Arbeitslehre. Da konnte man gesellschaftskritisch mit den Kindern arbeiten. Und wenn man bei einem Thema engagiert ist, springt der Funke schnell über. Dann fassen die Schüler auch Vertrauen.

Damals ging es auch um ein anderes Lehrer-Schüler-Verhältnis.

Da war ich ein bisschen kritischer. Zum Beispiel das Duzen – damit konnte ich mich nicht identifizieren. Mir hatte sich der Satz einer Schülerin eingeprägt, die damals gesagt hat: Sie sind doch meine Lehrerin, ich kann Sie gar nicht duzen. Da ist eine Hürde zwischen uns. Und ich habe gedacht: Das Mädchen hat doch Recht.

Ist also der Eindruck, dass damals eine ganze Reihe rebellischer Junglehrer an die Schulen kam, falsch? Sie zitieren einen späteren GEW-Vorsitzenden mit dem Satz, Schule würde sich erst ändern, „wenn sich die Arbeiter bewaffnet haben“.

Es gab sehr unterschiedliche Menschen und sehr viele Richtungen, die aus der Studentenbewegung kamen. Und natürlich waren wir über vieles erschrocken. Es gab so überholte Rituale: Der Schulleiter stand wie Lehrer Lämpel im Foyer und empfing die Schüler, die in Zweierreihen anzutreten hatten. Irre ist, dass noch Jahre später Kollegen nach diesen alten Regeln fragten: Ist diese Treppe nicht eigentlich nur für Lehrer? Dahinter steckt ja nichts anderes als der Wunsch nach Distanz: Ich will die Schüler nicht sehen. Ich würde mir am liebsten einen Tunnel graben, um in die Schule zu kommen.

Gibt es weitere Beispiele?

Schockierend war für uns Junge auch, zu hören, wie manche Kollegen damals schon über Schüler klagten: Die sind so dumm, das wird immer schlimmer. Da dachten wir: So geht es doch nicht. So eine Einstellung bildet sich ja auch in ihnen ab. Wenn sie damit vor eine Klasse treten, haben sie verloren. Dagegen haben wir schon rebelliert. Wir haben uns auch regelmäßig getroffen, um über Schule zu reden. Das gibt es heute nicht mehr.

Populär sind heute aber wieder Forderungen nach mehr Disziplin und Autorität sowie nach härteren Bestrafungen.

Das ist populär, weil es sich so einfach anhört. Aber im wirklichen Leben wird uns das nicht weiterhelfen. Grenzen setzen – selbstverständlich, das macht doch Erziehung aus. Das ist eine Binsenweisheit. Aber es geht doch um Einsicht – dass ich meinen Nachbarn und mich selbst nicht schädige, und dass eine Gemeinschaft da auf einen Nenner kommen muss. Wenn ich diese Einsicht nicht habe, dann liefere ich einen oberflächlichen Anpassungsprozess, den ich aber immer wieder zu unterlaufen versuche. Urinkontrollen gegen Drogen beispielsweise sind offiziell vielleicht eine schöne Sache. Aber wenn keine Einsicht da ist, geht der Ehrgeiz der Schüler doch dahin, sie zu unterlaufen.

Braucht man nicht eine ganze Menge Disziplin, um sich zu sagen: Ich weiß, ich werde keine Lehrstelle bekommen, und trotzdem stehe ich jeden Morgen auf und gehe zur Schule?

Ja. Aber Sie können das doch nicht als Tugend an erste Stelle stellen! Das ergibt sich aus anderen Notwendigkeiten. Ich bin ja kein Anarchist oder so etwas, dem habe ich auch nie angehangen. Aber der Mensch ist ein Vernunftwesen, und das kann ich doch auch bei anderen Menschen erreichen.