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: HELMUT HÖGE über die Unterschicht

„Abwärts treibt der Sinn“ (Novalis)

Angesichts des Niveauverlusts der deutschen TV-Programme sprach ein Moderator 2007 von „Unterschichtfernsehen“. Seine abfällige Bemerkung trat eine „Unterschichtdebatte“ los. Diese wurde von der Bild-Zeitung immer wieder mit Farbberichten über Sozialschmarotzer vom Schlage eines „Florida-Rolfs“ befeuert. Der SPD-Chef Kurt Beck behauptete daraufhin, eine der Ursachen für soziale Randständigkeit liege in der mangelnden Leistungs- und Rauchenaufhörbereitschaft der Betroffenen. Der SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering wollte den Begriff der Unterschicht dann sogar den ebenso „lebensfremden“ wie pfeiferauchenden „Soziologen“ anlasten, denn in Deutschland gebe es doch gar „keine Schichten“ mehr, sondern nur noch „Menschen, die es schwerer haben“.

Ungeachtet dieser Debatte, der sich die taz mit bisher 99 bunten Artikeln anschloss, bekommen wir es ab 2008 jedoch mit einer „Rückkehr der Klassen“ zu tun. Dies behaupten jedenfalls sieben „lebensnahe Soziologen“ in ihren Studien über die „Unterschicht“. So lautet der Titel des von Rolf Linder, einem Stadtforscher an der Berliner Humboldt-Universität, soeben herausgegebenen und von der Stadt Wien finanzierten Buches.

Mit den Sozialdemokraten können wir da nun einigermaßen sicher draufsatteln: Es handelt sich bei dieser Schicht um immer mehr „Menschen, die es schwerer haben“. Zumindest schwerer als wir, die wir das trotzdem nicht hinnehmen wollen. Wie der französische Maoist und Philosoph Alain Badiou gerade im Audimax der Humboldt-Uni vortrug, muss es dazu weniger um Freiheit als vielmehr um Gerechtigkeit gehen. Im Unterschied zu früher, als die Arbeiter die Klassenspaltung noch als eine „Kluft ohne Brücke“ begriffen, gegen die sie sich eigene Organisationen und Institutionen schufen, vermissen die heutigen Unterschichtler vor allem die Schicht.

Die angedrohte Schließung des Nokia-Werks in Bochum zeigte erneut, dass Facharbeiter nicht prekär beschäftigt werden, sondern es schon lange sind. Deswegen stieß der Begriff des „Prekariats“ auch auf weniger Widerstände, weil er aus der Klassenzugehörigkeit eine Zustandsbeschreibung macht: eine amerikanische Spezialität.

In den USA erfindet man auch am laufenden Band neue Medikamente für all die „Menschen, die es schwerer haben“. Sei es, dass sie ihr Haus verlieren und auf der Straße stehen, betteln oder Obdachlosenzeitungen verkaufen. All diese „Tätigkeiten“ werden inzwischen schon bestraft. Die Los Angeles Times berichtet: Von „Boston bis Honolulu“ verschärfen die Städte ihre Verordnungen gegen Betteln. In Tacoma kann man deswegen bereits für 90 Tage in den (privatisierten) Knast kommen. Im Rust Belt bilden sich immer mehr Banden.

Die öffentliche Leugnung und polizeiliche Liquidierung der „Unterschicht“ führt dazu, dass diese sich kaum noch nichtkriminelle Organisationen schafft. Die Auflösung des staatssozialistischen Ostblocks und das Veralten der Gewerkschaften haben diese „Krise der Arbeiterbewegung“ noch verschärft. Die Folgen sind laut Robert Kurz und Peter Sloterdijk uns immer näher kommende „Zonen der Barbarei“ sowie eine allgemeine Verrohung.

Das gilt anscheinend auch für die in der Kunst der Meinungsfindung stets vorne liegen wollenden Medien. Aus seiner Kenntnis der Radiokunst seit ihren Anfängen hat der Freiburger Kulturforscher Klaus Theweleit dafür sogar ein „Gesetz“ gefunden: „Neue Medien, wo sie zu einer medialen Dominanz gelangen, heben überall für die Zeit ihrer Einführung und Durchsetzung den Pegel der offenen, gesellschaftlichen Gewalt.“

Müssen wir deswegen nun vom „Unterschicht-Internet“ sprechen? Und davon, dass es das Proletariat nur noch im „Second Life“ gibt. Eine der vielen Frauen, die sich dort verheiratet haben, hat jetzt gerade hier über ihre echten Glücksgefühle dort berichtet. Die Unterschicht wird immer vielschichtiger. So viel kann man vielleicht sagen.