Zille-Milljöh: Der Zeitensprung vor die eigene Tür

Die Schüler einer achten Klasse suchen nach Spuren von Heinrich Zille. Für die einen ist der Berliner Zeichner anfangs zu weit weg, für die anderen noch viel zu nah. Am Ende nähern sie sich ihm doch - jeder auf seine Weise.

Das mit der Geschichte, die man vor der eigenen Haustür erlebt, ist so eine Sache: Für die einen aus der achten Klasse der Evangelischen Schule in Mitte war Zille am Anfang einfach zu weit weg. Dabei hat er seine Fotos nur ein paar Straßen von ihrer Schule entfernt aufgenommen. Die anderen meinten, dass das alles noch gar nicht lange genug her ist. Für sie ist Zille gewissermaßen zu nah dran. Das Milieu, das Heinrich Zille, der Maler und Fotograf, am Anfang des 20. Jahrhunderts immer als "Milljöh" gemalt hat, das kennen manche Leute noch, weil sie es miterlebt haben: die verarmten Arbeiter in den Hinterhöfen, die Prostituierten.

Yannick beispielsweise ist 15 Jahre alt und hält die Römer für wesentlich spannender als Zille und diese Weimarer Republik. Caesar hat jemand, der heute lebt, garantiert nie getroffen. Es ist kniffliger, an Informationen über ihn zu kommen. Tara dagegen sagt, dass die Weimarer Republik sich hinter dem Zweiten Weltkrieg versteckt. Alle beschäftigen sich nur mit der Nazi-Zeit, aber über die Jahre davor weiß man deutlich weniger. "Es ist schwer, etwas darüber herauszukriegen", sagt Tara. Sie versuchen es in der Evangelischen Schule in Mitte trotzdem.

Tara, Yannick und andere aus der achten Klasse nehmen am Projekt "Zeitensprünge" teil. Sie sehen sich in ihrer Umgebung um und suchen nach Spuren, die die Weimarer Republik hinterlassen hat. Vor allem geht es um Spuren, die etwas mit Heinrich Zille zu tun haben. Frank Schikore ist dafür zuständig, ihnen zu zeigen, wo die Fährten liegen könnten. Schikore ist Theater- und Medienpädagoge. Er trägt Jeans, ein kariertes Hemd und zieht an diesem sonnigen Herbstvormittag einen Einkaufstrolley in schwarz und rosa hinter sich her. Darin ist noch mehr Material für die Arbeitsgruppe. Als er im Klassenzimmer ankommt, stapeln sich auf einem Tisch schon Zille-Bücher und Bilder des Berliner Malers. Schikore sagt, dass es jetzt darum geht, die Präsentation für den Abschlusstag vorzubereiten.

Seit einigen Monaten beschäftigen sie sich mit Zille. "Milljöhstudien zu Armut und Jugend in der Weimarer Republik", heißt der Titel ihres Projekts, weil bei Zille ja immer von seinem "Milljöh" die Rede gewesen ist. Schikore hatte schon zuvor mit Teenagern der Evangelischen Schule gearbeitet. Damals waren sie als Kiezreporter unterwegs und haben auch die Gegend erkundet. Dabei waren sie einmal zu Besuch beim Kinderhilfswerk, und dort kam Schikore die Idee, sich mit der Armut von heute zu beschäftigen, indem man sich die Armut von damals ansieht. Mit einem Kollegen hat er den Vorschlag bei der Stiftung demokratische Jugend eingereicht. Am Ende gehörte ihre zu den 25 Ideen, die für das "Zeitensprünge"-Projekt ausgewählt und mit gut 1.000 Euro gefördert wurden. Am Freitag werden die Schüler auf dem Jugendgeschichtstag vorstellen, was sie herausgefunden haben.

Tara und Ronja hatten während der Fotoexkursion ins Scheunenviertel zum ersten Mal das Gefühl, dass sie die Distanz zwischen der Weimarer und der Berliner Republik überbrücken. Tara ist 14, Ronja 13. Sie sind damals mit einem Pack Zetteln, einer Kamera und einem Diktiergerät losgezogen.

Auf einem Zettel war ein Stadtplan zu sehen. "Euer Forschungsgebiet ist rosa markiert", stand daneben. Die übrigen Zettel zeigten Bilder von damals - von einer Kutsche, einem Obdachlosen im Hauseingang. In ihrem Forschungsgebiet lag die Almstadtstraße. Irgendwie gelangten sie dort in ein Haus und fanden ein paar Bewohner, die sie in ihre Wohnung ließen und sich mit ihnen über Zille unterhielten. Sie wussten erstaunlich viel über ihn. Das Paar aus dem Haus führte sie hinunter zu einer ehemaligen Kellerwohnung. Sich vorzustellen, dass zwischen diesen grauen Wänden einmal Leute gewohnt haben sollen, hat Ronja fasziniert. Sie haben alles fotografiert und am Ende haben ihnen die gastfreundlichen Mieter sogar versprochen, ihnen den Kontakt zu einer Frau zu vermitteln, die zu Zilles Zeiten in dem Haus gelebt hat.

In solchen Momenten klappt es ziemlich gut mit der Geschichte, die man vor der eigenen Haustür erlebt. Darum geht es bei dem "Zeitensprünge"-Projekt vor allem, sagt Uwe Danker, der beim Landesjugendring Berlin dafür zuständig ist. Danker hat lange Haare, einen Bart und eine recht genaue Vorstellung davon, wie das alles funktionieren soll. Die Jugendlichen müssen eine Verbindung herstellen, zwischen dem, was damals war, und dem, was heute ist. Sie sollen verstehen, dass sich die Geschichte direkt bei ihnen abgespielt hat. "In ihrem Sozialraum", sagt Danker. Deshalb ziehen in Kreuzberg junge Kurden mit der Kamera durch die Nachbarschaft und erzählen die Geschichte der Läden dort. Woher kommt der Bäcker? Warum ist er nach Deutschland gekommen? Sie erfahren so auch etwas über sich selbst, über ihre eigene Herkunft. Andere beschäftigen sich im Osten mit einem Konzert von Bruce Springsteen, das dort relativ kurz vor der Wende stattgefunden hat. "Jeder muss sich Geschichte selbst aneignen", glaubt Danker.

Die Mädchen finden das ganze mittlerweile tatsächlich nicht mehr so langweilig wie am Anfang. Konzentriert malen sie im Klassenzimmer an ihren Collagen. Sie haben Fotos aus dem Scheunenviertel von heute vor sich liegen und zeichnen die Zille-Figuren von damals darauf. Da ist wieder diese Verbindung, der Zeitensprung.

Manchmal ergeben sich die Verknüpfungen auch ganz zufällig. Jette sitzt bei Tara und Ronja am Tisch. Sie pinselt rosa Pastellfarben über ein Foto, schaut es an und ist zufrieden: "Übergeil". Neulich hat sie sich mit ihrem Vater über Zille unterhalten. Der Vater hat seinen Zivildienst in der Psychiatrie geleistet, und da war so ein Typ, der dachte, er sei Heinrich Zille. Die Bilder hätten tatsächlich so ähnlich ausgesehen, hat der Vater erzählt, und manchmal ist der Typ abgehauen, weil er den Armen helfen wollte. "Das ist doch eigentlich ein guter Vorsatz", sagt Tara. "Den sollte man freilassen."

Die Zille-Spuren sind nicht immer so einfach aufgetaucht. "Man kriegt es nicht vor die Nase gebunden, wenn man auf die Straße geht", sagt Tara - man muss schon klingeln.

Aber auch die Jungs nebenan haben nach einer Weile Leute gefunden, die ihnen von Zille berichteten. "Die Frau links erzählte uns: Zille war ein Volkszeichner, der den Menschen auf das Maul schaute", haben Yannick, Moritz und Jakob auf einem Plakat neben dem Foto von der Frau vermerkt. Jakob hat mittlerweile den Eindruck, dass es damals "ziemlich kaputt und ranzig" war. "Ich würde nicht gerne in der Zeit leben." Am ehesten haben es die Obdachlosen im Berlin des 21. Jahrhunderts noch so schlimm, denkt er, wie die Armen, die Zille porträtierte. Von Hartz IV, vermutet Yannick, lebe man heute wesentlich besser als diese Menschen früher: "Die Leute, die jetzt schlecht verdienen, wären damals reich gewesen." Keiner von ihnen hat Freunde, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen. "Die Armut ist heute ganz anders als die Armut damals", glaubt Tara trotzdem zu wissen.

Der Einzige, der sehr deutliche Parallelen sieht, ist Frank Schikore. Die Ausgrenzung, sagt er, sei im Grunde dieselbe. Heute wie damals. Vielleicht ist das ein bisschen zu abstrakt. Die Schüler müssen es außerdem gar nicht so sehen wie er. Es soll ja nicht frontalunterrichtsorientiert sein, sagt Danker. Das wäre ja Schule. Sie sollen von sich aus Spaß an der Geschichte finden.

Bei den Graffiti-Jungs, an der Tischgruppe ganz hinten in der Ecke, ist das noch etwas schwierig. Sie durften Zille-Motive an die Wand sprühen, das hat ihnen gefallen. Aber jetzt, wo das Sprayen wieder vorbei ist, sitzen sie leicht genervt vor den Bildern. Na ja, sagt einer. Irgendwie sei Zille ja fast so was wie ein Sprayer gewesen: "Er wollte auch was damit sagen."

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