Pogromnacht: Der Anfang des Terrors

Ruth Winkelmann ist zehn Jahre alt, als die Nazis am 9. November 1938 jüdische Geschäfte und Synagogen anzünden. Lange hat sie über das Geschehene geschwiegen.

Schmiereien auf den Fenstern eines jüdischen Geschäfts in Berlin 1938. Bild: ap

Die Familie Jacks weiß nicht, was in der Nacht passiert ist. Sie besitzt kein Radio, und in Hohen Neuendorf nördlich von Berlin ist es ruhig gewesen. "Vati, schau mal, da sind alle Scheiben kaputt", sagt die kleine Ruth, als sie am Morgen des 10. November 1938 im Lastwagen des Großvaters durch Wittenau fährt.

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 brannten

SA-Truppen 267 Synagogen nieder, zerschlugen die Fensterscheiben von 7.500 Geschäften und töten fast 100 Menschen - stets unterstützt vom wütenden Mob. Wegen der vielen Glasscherben, die die Straßen bedeckten, war bald auch verharmlosend von der "Reichskristallnacht" die Rede.

Zum 70. Jahrestag gibt es viele Gedenkveranstaltungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht am Sonntag in der Synagoge in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. Zu einem Gedenkweg vom Roten Rathaus zur Synagoge in der Oranienburger Straße werden der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und die Vorsitzende der Berliner Jüdischen Gemeinde, Lala Süsskind, erwartet. Im Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals sind Lebensgeschichten von Opfern zu hören. Der Schauspieler Klaus Maria Brandauer liest bei einer Matinee im Berliner Ensemble Zeugnisse des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Brandauer wirkt bereits am Vorabend bei einem Benefizkonzert im Flughafen Tempelhof mit, zu dem auch Max Raabe und der Jazz-Trompeter Till Brönner eingeladen sind. PEZ

Hermann Jacks zuckt mit den Schultern. Er sieht die Davidsterne, die an die Fassaden geschmiert sind. Aber er weiß noch nicht, dass seine Tochter und er auf dem Schulweg die Folgen der Reichspogromnacht sehen - jener Nacht, die den Wendepunkt von gesetzlicher Diskriminierung hin zu brachialer Gewalt gegen jüdische Bürger im Dritten Reich markiert.

Ruth Winkelmann, geborene Jacks, ist eine der letzten Zeuginnen dieser Zeit. Während der morgendlichen Fahrt in die Mädchenschule in der Auguststraße beobachtet die zehnjährige Halbjüdin Berliner, die sich in den Auslagen der jüdischen Geschäfte bereichern. "Als wir nach Mitte kamen, liefen SA-Truppen durch die Straßen, sie schwangen ihre Schlagstöcke und große Hakenkreuzfahnen", erinnert sie sich, während sie in ihrem Wohnzimmer einen Ordner mit alten Fotografien durchblättert. "Es war furchterregend." Das Geräusch der klackenden, kniehohen Schaftstiefel auf dem Bürgersteig ist ihr bis heute im Gedächtnis.

Vater Hermann, Großvater Georg und Ruth sind in dem Lastwagen nicht als Juden zu erkennen - sie sind Schrotthändler auf dem Weg zur Arbeit. Das Geschäft von Georg Jacks liegt nicht weit von Ruths Schule entfernt, sie fährt morgens im Wagen mit, nachmittags fährt sie mit der S-Bahn nach Hause. An diesem Tag beobachten die drei einen SA-Trupp, der in der Gartenstraße einen orthodoxen Juden überfällt. Zwei Helfer halten den Mann fest, die anderen schmieren ihm mit weißer Farbe einen Davidstern auf den Mantel. "Der arme Kerl", murmelt Ruths Vater. Aus der Nebenstraße hören sie Rufe - "Judensau" - und immer wieder das Geräusch der Uniformstiefel.

In der Auguststraße selbst ist es ruhig. Der Obsthändler bietet wie jeden Tag seine Waren feil, das schlanke, sportliche Mädchen holt sich einen Apfel für die Pause. Hermann Jacks sieht zwar, dass aus der nahe gelegenen Synagoge Rauchschwaden qualmen. Dennoch wähnt er die Tochter in der Schule sicher. Die Große Synagoge in der Oranienburger Straße ist zwei Hinterhöfe entfernt.

Was Ruths Vater nicht weiß: Die SA-Männer sind auf der Lauer. Als ein Großteil der 600 Schülerinnen im Gebäude ist, verrammeln sie den Eingang und beschmieren das Schulgebäude mit Davidsternen und antisemitischen Sprüchen. Keiner kann entkommen.

Ruth und ihre Mitschülerinnen flüchten sich in die Aula. "Obwohl wir so viele waren, war es unheimlich ruhig, kaum einer hat gesprochen", erinnert sie sich. "Und dann habe ich zum ersten Mal in meinem Leben in der Schule gebetet."

Ruth Winkelmann kommt aus einer liberalen Familie. Die Mutter ist Christin, der Vater Jude - und stolz aufs Deutschsein. "Die Familie des Vaters war preußischer als preußisch." Ruths Großmutter konnte sich selbst dann nicht vorstellen, dass die Nazis sie töten würden, als diese bereits Haus, Hof und Geld beschlagnahmt hatten. "Mit uns doch nicht, hat die Oma immer gesagt und an ihr Eisernes Kreuz wegen des Lazarettdienstes im Ersten Weltkrieg erinnert", sagt Ruth Winkelmann. Sie selbst ist eine so genannte "Geltungsjüdin", ein "Mischling", der zum Stichtag 15. September 1935 in der jüdischen Gemeinde registriert ist. In die jüdische Schule geht Ruth auf Wunsch der Eltern.

"Als uns die SA in der Schule eingeschlossen hat, saßen wir fest", sagt sie. "Vorn die SA-Männer, hinten die qualmende Synagoge." Erst zu diesem Zeitpunkt erfährt Ruth Jacks von der Pogromnacht. "Da ist nichts beschönigt worden, wir wurden auch vor körperlicher Gewalt gewarnt."

Doch die Lehrer haben einen Plan. Jeweils zwei Mädchen gehen zusammen zum Dachboden, flüchten über eine Tür ins benachbarte Haus, bis sie wieder unerkannt auf die Straße können.

So harmlos wie möglich schlendert Ruth mit ihrer Freundin Lily über die Gartenstraße bis zur S-Bahnhaltestelle Stettiner Bahnhof. "Wir mussten wie zwei normale Schulmädchen wirken, aber das Herz hat unheimlich geklopft."

Keines der beiden Mädchen kann das Geschehene einordnen. Zwar haben die Repressalien längst begonnen, aber die plötzliche Zerstörungswut ist neu. "Einzeln haben sie sich nicht viel getraut, aber zusammen in der Gruppe gab es für die SA-Leute kein Halten mehr", sagt Ruth Winkelmann heute. Dass die Reichspogromnacht der Auftakt einer Massenvernichtung ist, kann sich die kleine Ruth Jacks nicht vorstellen.

Auch die Schrotthandlung der Familie Jacks wird Opfer der Verwüstungen. Eine Entschädigung bekommen die Jacks genauso wenig wie die anderen Geschäftsleute - stattdessen muss "das Judentum" per Erlass als "Sühneleistung" insgesamt eine Milliarde Reichsmark zahlen. Keiner der Plünderer, Mörder und Brandstifter wird angeklagt. Später verliert die Familie die Schrotthandlung ganz. Das Geld kommt auf ein Sperrkonto, von dem die Jacks 200 Mark monatlich abheben dürfen.

Ruth Winkelmann legt den Ordner mit den Fotografien zur Seite. Von 15 Familienmitgliedern, die deportiert werden, überlebt nur eines. Ihr Vater wird in einem Nebenlager von Auschwitz ermordet. Ruth Winkelmann überlebt.

Über ihre Vergangenheit hat Ruth Winkelmann lange geschwiegen. Erst vor wenigen Jahren hat sie sich entschlossen, ihre Geschichte aufzuschreiben. "Es waren nur ein paar Seiten, aber es hat vier Monate gedauert und war eine furchtbare Zeit." Im Nachlass der Mutter hat sie mehrere Vorladungen gefunden. "Wäre ich der Aufforderung der Gestapo nachgekommen, es wäre die sichere Fahrkarte in den Tod gewesen."

So überlebt das Mädchen mit Mutter und Schwester in der Laube von Leo Lindenberg in Wittenau. Lindenberg, ein Bekannter der Mutter, ist Parteimitglied der NSDAP. Die anderen Bewohner in der Laubensiedlung sind zum großen Teil ausgebombte Berliner - und sympathisieren mit den Kommunisten. Niemand verrät die Familie.

Nach dem Krieg wird Ruth Winkelmann Schneiderin, verkauft Souvenirs und wird Schwimmtrainerin. Sie heiratet, bekommt einen Sohn, entdeckt ihre Leidenschaft fürs Reisen.

Und fürs Erzählen. Mit ihren 80 Jahren ist die viel jünger wirkende Frau ein gern gesehener Gast in Schulen und kulturellen Einrichtungen. Sie erzählt trocken, ohne Verbitterung.

Einen Antrag auf Wiedergutmachung hat Ruth Winkelmann nie gestellt. "Ich hatte den Eindruck, das deutsche Volk war ausreichend bestraft worden für seine Unterstützung für Hitler."

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