„Der Rollstuhl war wie eine Befreiung“

EINSATZ FÜR BEHINDERTE Mit seinem Leben im Rollstuhl kommt Martin Marquard gut zurecht. Weniger positiv fällt die politische Bilanz aus, die der Landesbeauftragte für behinderte Menschen zieht, der nach zehnjähriger Amtszeit in den Ruhestand geht. Zwar sei in puncto Mobilität und „barrierefreie Stadt“ einiges vorangekommen, anders sehe es aber bei der Bildungspolitik aus: „Einerseits haben wir ein gutes Schulgesetz, das Inklusion fördert. Die praktische Umsetzung ist aber eine andere Sache – die endet wie so oft an den finanziellen Grenzen“

■ Geboren 1944 in Güntersberg (Oder) im heutigen Polen. Als er drei Monate alt war, floh die Familie. Er wuchs in der DDR auf, 1960 ging die Familie in die Bundesrepublik. Nach dem Abitur 1965 studierte er Publizistik, Politikwissenschaft und Soziologie auf Magister und hängte ein Lehrerstudium an.

■ 1971 wurde bei ihm chronische Polyarthritis diagnostiziert, ein schweres Rheumaleiden, das unheilbar ist und den Betroffenen durch fortschreitende Gelenkversteifung nach und nach bewegungsunfähig macht. Wegen der Krankheit musste er nach wenigen Jahren den Schuldienst quittieren.

■ 1981 gründete Marquard eine Rheumaselbsthilfegruppe; so begann sein Engagement für die Belange von Behinderten. Er war Mitbegründer des „Spontanzusammenschlusses Mobilität für Behinderte“ (1987), Vorstandsmitglied im Berliner Behindertenverband und verantwortlicher Redakteur der Berliner Behinderten-Zeitung. Von 1993 bis 2000 war er Lehrbeauftragter an der Alice-Salomon-Fachhochschule.

■ Von Mai 2000 bis Anfang September 2009 war Marquard Senats-Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung. Seit einer Woche ist er offiziell im Ruhestand.

INTERVIEW SUSANNE GANNOTT
UND MOHAMED AMJAHID
FOTOS AMÉLIE LOSIER

taz: Herr Marquard, für den Ruhestand nehmen sich die meisten etwas vor. Was ist es bei Ihnen?

Martin Marquard: Ich würde gerne mit meiner Frau verreisen und Zeit mit meinen Enkelkindern verbringen. Ich möchte mich aber auch weiter ehrenamtlich engagieren – vor allem für das Thema barrierefreie Stadt. Ich bin ja selbst betroffen.

Wenn Sie irgendwo hinwollen, achten Sie dann drauf, dass Sie barrierefreien Zugang haben?

Ja, natürlich. Als Rollstuhlfahrer muss man alles immer genau planen. Wenn ich irgendwohin möchte, muss ich vorher anrufen, ob Barrierefreiheit gegeben ist. Oder ob noch Plätze für Rollstuhlfahrer frei sind: In der Staatsoper gibt es zum Beispiel nur zwei, und die sind oft ausgebucht. Deswegen kann man nicht spontan losfahren.

Bis heute sind erst rund 70 von 170 U-Bahnhöfen in Berlin barrierefrei. Volle Bewegungsfreiheit für Behinderte sähe anders aus, oder?

Das stimmt. Man kann aber auch sagen, das ist schon fast die Hälfte. Und die umgebauten Bahnhöfe sind über die ganze Stadt verteilt. Wir haben zwar noch ein paar Strecken, wo mehrere Bahnhöfe hintereinander keine Aufzüge haben, wenn ich aber in der Stadt unterwegs bin – und ich bin oft unterwegs –, komme ich immer überallhin. Ich mache alle meine Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr. Viele Menschen, ältere oder behinderte, trauen sich nicht, diesen zu nutzen, die muss man davon überzeugen, dass es nicht gefährlich ist. Wir haben jetzt mit der BVG verabredet, dass in den nächsten zwei, drei Jahren wenigstens jeder zweite Bahnhof einen Aufzug hat.

Sie sind aber oft kaputt, die Aufzüge.

Das kommt noch dazu. Es ist mir auch schon passiert, dass ich deswegen nicht aus dem Bahnhof rauskam. Aber es ist besser geworden. Es gibt jetzt ein gutes Informationssystem. Ich klicke im Internet den Bahnhof an, bevor ich losfahre, und sehe, ob der Aufzug in Ordnung ist oder nicht.

Bemessen Sie eigentlich den Erfolg Ihrer Arbeit an der Zahl der umgebauten Bahnhöfe? Oder geht es um etwas nicht Messbares?

Das ist natürlich nur ein Teilbereich. Meine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass das Land seiner Verpflichtung nachkommt, gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderung zu schaffen. Da ist die Mobilität ein Aspekt. Aber es geht auch um Schulpolitik und um die Probleme Studierender mit Behinderung. Und natürlich um die Integration in den ersten Arbeitsmarkt – ein ganz wichtiges Thema für uns.

Wie zufrieden sind Sie in dieser Hinsicht?

Gar nicht. Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen ist überdurchschnittlich hoch.

Woran liegt das?

Das ist schwierig zu erklären. Ich glaube, dass es ein psychologisches Problem ist, eine simple Berührungsangst. Der Arbeitgeber denkt, dass er sich mit einem behinderten Arbeitnehmer nur Probleme ins Haus holt.

Eigentlich gibt es ja eine Beschäftigungspflicht.

Ja, ab einer Betriebsgröße von 20 Mitarbeitern müssen 5 Prozent behindert sein. Real liegt die Quote in der freien Wirtschaft aber bei weniger als 3,5 Prozent.

Sollte man nicht die Quote verpflichtend machen?

In der freien Wirtschaft kann man das nicht erzwingen. Aber wir haben gefordert, dass man den Ausgleichsbetrag erhöht, sodass es wirklich wehtut. Denn noch zahlen die Betriebe lieber die Ausgleichsabgabe, als einen behinderten Menschen einzustellen. So kleine Beträge von ein paar hundert Euro pro Monat zahlt ein Großbetrieb aus der Portokasse. Das ist ein Freikauf, eigentlich ein Rechtsbruch. Dabei ist ein Arbeitgeber eigentlich dumm, wenn er sich so verhält. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass behinderte Arbeitnehmer, die arbeiten wollen und können, in der Regel besser qualifiziert sind als Nichtbehinderte. Sie sind stärker motiviert, weil sie sich behaupten müssen. Und man bekommt sogar als Arbeitgeber drei Jahre lang Lohnzuschüsse durch die Arbeitsagentur. Selbst der Einbau einer behindertengerechten Toilette wird vom Staat bezahlt. Trotzdem kamen in meine Sprechstunde viele Betroffene, die sich beschwerten, dass sie sich zum 20. Mal bewerben, ohne zu einem Gespräch eingeladen worden zu sein.

Was haben Sie ihnen geraten?

Dass sie ihre Behinderung nicht in der Bewerbung erwähnen. Das muss man nämlich nicht. Dann wird man vielleicht zum Gespräch eingeladen und kann zeigen, dass man qualifiziert ist. Der Wandel wird nicht von heute auf morgen funktionieren; aber wir müssen darauf hinarbeiten, dass langfristig behinderte Menschen an allen Lebensbereichen – auch am Arbeitsleben – selbstverständlich teilnehmen können.

Aber schon in der Schule fängt es an mit dem Aussondern. Zum Schulanfang gibt es gerade die Debatte, dass es nicht genug Schulhelfer gibt für Kinder mit Behinderung. Diese Diskussion kommt jedes Jahr wieder. Warum?

Es ist eine reine Geldfrage. Wir haben uns an den Schulsenator Jürgen Zöllner gewandt, dass dies schnellstens in Ordnung gebracht werden muss. Berlin hat eine sehr widersprüchliche Schulpolitik: Einerseits haben wir ein gutes Schulgesetz, das Inklusion fördert. Die praktische Umsetzung ist aber eine andere Sache – die endet nämlich wie so oft an den finanziellen Grenzen. Trotzdem haben wir 35 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Regelschule integriert.

Ist das ein guter Wert?

Der Durchschnitt in Deutschland liegt zwischen 15 und 16 Prozent.

Also fällt die Berliner Bilanz positiv aus?

Seit Jahren werden die Mittel nicht aufgestockt. Es gibt darum immer weniger Pädagogen für immer mehr bedürftige Kinder. Das ist für mich eine indirekte Kürzung. Aktuell fehlen mindestens 1,5 Millionen Euro für Schulhelfer für behinderte Kinder. Zur gleichen Zeit wird die Schülerkartei eingeführt und verschlingt Millionen. Da kann man sich fragen, was das soll. Insgesamt muss man leider sagen, dass wir im Bildungsbereich in den letzten zehn Jahren keine Fortschritte gemacht haben, eher Rückschritte.

Aber es gibt ja jetzt die UN-Konvention, nach der alle behinderten Kinder das Recht haben, gemeinsam mit Nichtbehinderten unterrichtet zu werden. Wie lange wird es dauern, sie umzusetzen?

Das ist die große Frage. Diese Konvention widerspricht dem deutschen, selektiven Schulsystem, das wir aus dem Kaiserreich übernommen haben. Es war für uns eine Genugtuung, als sie in Deutschland ohne Einschränkung ratifiziert wurde. Seit März ist sie nun in Deutschland in Kraft und muss in deutsches Recht umgesetzt werden. Jetzt reiben wir uns die Hände und sagen, dass sie umgesetzt werden muss. Das wird aber Jahre dauern. Wir haben zwar eine flächendeckende Integration behinderter Kinder im Kindergarten, eine sehr gute in der Grundschule; aber je höher man geht, desto weniger wird es. Es kann nicht sein, dass es nur einige Gymnasien in Berlin gibt, die Integration betreiben. Das heißt doch, wenn man behindert ist, bleibt man irgendwann auf der Strecke.

Wie war das bei Ihnen: Waren Sie schon als Kind behindert?

Nein. Ich leide an einer schweren Form von Rheuma, Polyarthritis. Ich bin mit 27 Jahren krank geworden, das hat mit Schmerzen in den Fingern begonnen. Vorher war ich kerngesund. Keiner kann es sich heute vorstellen, aber ich war relativ sportlich, konnte sogar Salto springen und war ein sehr guter Skifahrer. Bei dieser Krankheit werden die Gelenke schleichend zerstört, das kann man bisher nicht heilen.

Wie wurden Sie damit fertig?

Man hat lange Zeit, sich darauf vorzubereiten. Im Jahr 1971 fing meine Krankheit an. Der Arzt hat damals zu meiner Frau gesagt, dass es 15 Jahre dauern wird, bis ich im Rollstuhl sitze. Wie sich zeigen sollte, stimmte das genau. Ich war damals, als es anfing, kurz vor dem Eintritt in mein Berufsleben und habe meine Lehrertätigkeit aufgenommen. Nach wenigen Jahren konnte ich nicht mehr, hatte zu starke Schmerzen. Meine Familie hat mir damals sehr geholfen, meine Frau, meine vier Kinder, inzwischen auch meine vier Enkelkinder. Ich habe 1981 eine Rheumaselbsthilfegruppe gegründet, da konnte ich mich mit anderen Betroffenen austauschen. Am schwersten war der Entschluss, sich in den Rollstuhl zu setzen.

Weil man dann ganz sichtbar behindert ist?

Genau. Ich habe mir vorher etwas vorgemacht. Ich konnte noch mit Mühe laufen. Bei dieser Krankheit ist es so, dass, wenn man zehn Schritte läuft, der Schmerz nachlässt. Aber wenn ich mich hinsetzte, hatte ich gleich wieder Angst vor dem Aufstehen. Und so dachte ich die ganze Zeit nur noch an die Krankheit. Da haben mir behinderte Menschen besonders geholfen: Sie haben mir vor Augen geführt, wie dumm und bescheuert ich doch bin, krampfhaft laufen zu wollen. Und das stimmte: Der Rollstuhl war wie eine Befreiung. Da hat mein Leben wieder angefangen.

„Meine Behinderung ist kein Unglück, eher ein Schicksal, mit dem ich leben gelernt habe. Manchmal träume ich aber davon, zu laufen“

Setzen Sie sich für behinderte Menschen ein, weil Sie selbst betroffen sind?

Das hat sich so entwickelt. Ich sitze seit 1985 im Rollstuhl. Wenn es so weit ist, dann muss man sein Leben völlig neu organisieren. Es gab damals schon die schöne Einrichtung namens Telebus. Der hat mobilitätsbehinderte Menschen 25-mal im Monat nach Wunsch an einen Ort und zurückgefahren. Der Senat wollte 1987 plötzlich die Mittel auf 12 Fahrten pro Person und Monat kürzen. Dagegen haben wir, die Nutzerinnen und Nutzer, demonstriert und zum Beispiel Straßenblockaden mit unseren Rollstühlen durchgeführt. Die Kürzungen sind dann nach vielen Protesten zurückgenommen worden. So bin ich in die Behindertenszene hineingerutscht – obwohl ich es am Anfang gar nicht wollte.

Vor zehn Jahren haben Sie die Seiten gewechselt. Vorher waren Sie Aktivist, dann auf einmal Beamter im „System“.

Das sagen manche Leute; ich sehe das nicht so. In den 90er-Jahren schwappte die Gleichstellungsdiskussion aus den USA nach Deutschland, und wir forderten ein Antidiskriminierungsgesetz. Berlin war dann 1999 das erste Bundesland, das ein solches Gesetz verabschiedet hat. Das haben wir erkämpft. Die Funktion des Landesbeauftragten wurde auf der Grundlage dieses Gesetzes völlig neu gestaltet. Es war klar, dass einer aus unseren Reihen das machen muss und nicht irgendein Verwaltungsmensch.

Jetzt gibt es aber eine Debatte über Ihren Nachfolger Jürgen Schneider. Es wird kritisiert, dass er ebendiese Art von Verwaltungsmensch sei.

Es kommt in erster Linie auf die Person an. Jürgen Schneider wurde vom Landesbeirat für Menschen mit Behinderung mit großer Mehrheit vorgeschlagen. Er besitzt das Vertrauen der Verbände. Jetzt muss der Senat entscheiden. Aber ich sehe diese Debatte eigentlich als Schwarz-Weiß-Malerei: Es gibt nicht auf der einen Seite die protestierenden Behinderten und auf der anderen Seite die böse Verwaltung. Da sind die Grenzen fließender geworden. Vielleicht nicht durch meine Person, aber auf jeden Fall durch die Funktion, die ich ausgeübt habe. Der Landesbeauftragte muss die Verwaltung und die Politik kritisieren können, das ist wichtig. Das habe ich häufig gemacht, auch in meinen Jahresberichten für das Abgeordnetenhaus. Es ist für eine Verwaltung einfach peinlich, wenn sie im Verstößebericht des Landesbeauftragten auftaucht.

Man kann aber doch festhalten, dass vieles in Sachen Gleichstellung nur zäh vorangegangen ist. Glauben Sie, dass mehr passieren würde, wenn mehr Politiker behindert wären?

Nein, das glaube ich nicht. Aber es ist schon gut, wenn behinderte Menschen Schlüsselpositionen einnehmen. Das berühmte Beispiel ist ja immer Wolfgang Schäuble.

Haben Sie den Bundesinnenminister mal kennengelernt?

Nö. Er macht keine Behindertenpolitik, und diese Entscheidung von ihm finde ich auch richtig. Er ist eben Innenminister und kümmert sich um Innenpolitik.

Zum Schluss eine etwas heikle Frage: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, würden Sie wieder laufen wollen?

Das ist schwierig (kurze Stille). Das weiß ich nicht, das hat mich noch nie jemand gefragt. Ich könnte spontan Ja sagen, aber so einfach ist es doch nicht. Ich habe ein Leben, in dem ich mich gut eingerichtet habe. Jemand anders hat mich neulich gefragt, was ich mir für die Zukunft wünsche, da habe ich gesagt: eine barrierefreie Stadt. Das ist ein realistischer Wunsch. Ich lebe sehr gut. Meine Behinderung ist kein Unglück, eher ein Schicksal, mit dem ich leben gelernt habe. Ich gebe aber zu, dass ich manchmal davon träume, zu laufen. Am nächsten Tag erinnere ich mich an meinen Traum und denke: Da bin ich tatsächlich gelaufen.