Eine Wegweiserin sucht ihren Weg

ARBEIT Semra Özyildiz hilft Touristen und Berlinern durch den Großstadtdschungel. Erfunden wurde der Beruf für den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor. Doch das Lieblingsprojekt der Linkspartei ist finanziell gefährdet

■  Vor zwei Jahren hat der Senat den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) geschaffen, um Langzeitarbeitslosen die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Mehr als 7.500 Menschen sind mittlerweile dort tätig.

■  Die eigens für dieses Projekt erdachten Stellen sollen gesellschaftlich sinnvoll und notwendig sein – neben Fahrgastbetreuern wurden etwa Alltagshilfen für Senioren oder Mitarbeiter der Berliner Tafel engagiert. Finanziert werden die sozialversicherungspflichtigen Stellen durch Förderprogramme für Arbeitslose des Landes und des Bundes.

■  Für die Arbeit im ÖBS kommen nur Menschen in Frage, die vorher mindestens zwei Jahre lang arbeitslos waren. Der Senat hat errechnet, dass er für jeden Beschäftigten im ÖBS pro Monat 279 Euro mehr zahlen muss, als wenn dieser weiterhin Hartz IV bezöge.

■  51 der 60 ÖBS-Stellen für die Betreuung eingeschränkt mobiler Menschen im öffentlichen Nahverkehr sind Ende Juli ausgelaufen. Weil der Bund weniger Geld gibt und Fördermittel neu strukturiert werden müssen, wird der Service drastisch eingeschränkt.

■  Genaue Zahlen, wie vielen Menschen aus dem ÖBS bereits der Sprung in eine richtige Festanstellung gelungen ist, gibt es noch nicht. Von den 140 Fahrgastbetreuern hat es bisher noch keiner geschafft. (wie)

VON JULIANE WIEDEMEIER

Wenn Semra Özyildiz den Alexanderplatz überquert, dann dauert das. Alle paar Meter stoppt sie, spricht Fremde an und mischt sich in deren Diskussionen ein. Manchmal drängt sie ihnen sogar einen Flyer auf – sehr zur Freude der verunsicherten Touristen. Denn mit einem Stadtplan, einem Streckennetz und ein paar nützlichen Tipps löst die Fahrgastbetreuerin so manches Problem von Berlinbesuchern.

Seit November 2008 ist Özyildiz an Berlins Verkehrsknotenpunkten unterwegs, um Informationen unter die Leute zu bringen. Damit sich Hilfsbedürftige auch von selbst an sie wenden, hat man ihr eine leuchtend grüne Weste angezogen und ein „I“ für Information auf den Rücken gedruckt. An heißen Tagen wie diesem trägt sie dazu T-Shirt, eine bis zur Wade reichende Sporthose und feste Schuhe. Ein geflochtener Pferdeschwanz guckt hinten aus dem Basecap. „Ich laufe den ganzen Tag herum und bin an der frischen Luft. Das gefällt mir an dem Job“, sagt sie. Außerdem redet sie gern und kennt keine Berührungsängste, wie man schnell merkt.

Özyildiz verdankt ihren Arbeitsplatz der Erfindung des öffentlich geförderten Beschäftigungssektors (ÖBS) durch den Senat. Die 140 Fahrgastbetreuer-Kollegen erhalten dank des Mindestlohns von 7,50 Euro pro Stunde 1.300 Euro brutto und werden sozialversichert. Özyildiz’ Vertrag ist befristet bis zum 30. September 2011. „Ich würde gern weitermachen“, meint sie.

Allerdings steht das Vorzeigeprojekt der Berliner Linkspartei auf tönernen Füßen: Das Sparpaket der schwarz-gelben Bundesregierung, die das Programm kofinanziert (siehe Kasten), sieht Kürzungen von 2 Milliarden Euro für Eingliederungshilfen vor. Zudem hat die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nun die sogenannte Bürgerarbeit initiiert, die 34.000 gemeinnützige Jobs schaffen soll. Das Programm zielt auf dieselben Tätigkeitsfelder ab wie der ÖBS. In Berlin beteiligen sich daran 2.300 Langzeitarbeitslose. Beide Programme existieren nun nebeneinander – noch.

Für Özyildiz ist der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt ein Traum, den sie längst nicht aufgegeben hat. Geboren Mitte der 60er Jahre in der Türkei kam sie als Jugendliche nach Berlin. „Hier habe ich meinen Schulabschluss und eine Lehre als Friseuse gemacht“, erzählt sie. Später habe sie immer wieder in wechselnden Büros gearbeitet, mal in der Buchhaltung, mal als Mädchen für alles. „Aber da ich keinen Abschluss in diesem Bereich hatte, ging es für mich irgendwie nie weiter.“ Aus den vielen Jobwechseln wurde Arbeitslosigkeit und der Plan, noch einmal neu zu starten. „Mit der Arbeit hier finanziere ich mir mein Fernstudium“, erklärt sie – sie studiere ein Fach im sozialen Bereich. Der Studienabschluss ist pünktlich zum Auslaufen des Vertrags im nächsten Jahr geplant.

Auch wenn die Berufsbezeichnung anderes vermuten lässt, sind die Fahrgastbetreuer nur an der frischen Luft, nicht jedoch auf den Bahnsteigen etwa der U-Bahn zu finden. „Dort haben wir eigene Mitarbeiter, zu denen die Fahrgastbetreuer an den Bus- und Tramhaltestellen sowie vor den U-Bahn-Eingängen eine gute Ergänzung sind“, sagt BVG-Sprecherin Heike Müller. Die Abgrenzung sei wichtig, da der ÖBS keine konkurrierenden Berufsfelder zu bereits bestehenden schaffen dürfe. „Die Schulungen der Betreuer haben aber wir übernommen.“

Dort haben Özyildiz und ihre Kollegen, bevor sie ihren Job aufnahmen, einen Monat lang Tarife und Streckennetze gepaukt. „Man hat uns auch beigebracht, in Rollenspielen knifflige Situationen zu bewältigen“, erzählt die Fahrgastbetreuerin. Gebraucht habe sie diese Fähigkeiten jedoch noch nie; aus Sicherheitsgründen seien sie aber auch immer zu zweit unterwegs.

„Berliner lassen sich in ihrer eigenen Stadt ungern etwas sagen – aber ich kann sie ja trotzdem schlecht an einer verwaisten Haltestelle auf einen Bus warten lassen, der gerade umgeleitet ist“

SEMRA ÖZYILDIZ, FAHRGASTBETREUERIN DER BVG

Neben Deutsch und Türkisch spricht Özyildiz noch Schulenglisch, das sie mit einer zusätzlichen Weiterbildung im Winter ein wenig aufpoliert hat. „Aber in diesem Job kann man alles Wichtige auch ohne Worte vermitteln“, meint sie. Den Beweis dafür liefert sie wenig später, als sie sich in das Gespräch eines über einem Stadtplan gestikulierenden französischen Ehepaars einmischt. Den Weg zum Reichstag erklärt ihnen Özyildiz schnell: Die Richtung weist der Arm, Laufen macht sie pantomimisch, den Bus beschreibt sie mit den Armen als großes Viereck. Die Franzosen bedanken sich überschwänglich für diesen Einsatz – hier hat Özyildiz gerade nicht nur etwas für das Image Berlins getan, sondern wohl auch einen Ehekrach verhindert.

Ähnlich glücklich reagieren vier junge Spanierinnen auf der Suche nach einer Stadtführung in ihrer Sprache, als Özyildiz sie anspricht. „Meist sind die Leute überrascht, dass es in Deutschland Leute wie uns gibt“, sagt sie. Touristen freuten sich immer, wenn man ihnen helfen wolle, während die Berliner ruppiger seien. „Sie lassen sich in ihrer eigenen Stadt ungern etwas sagen – aber ich kann sie ja trotzdem schlecht an einer verwaisten Haltestelle auf einen Bus warten lassen, der gerade umgeleitet ist.“

Özyildiz lebt in Kreuzberg unweit des Checkpoint Charly. Verirrte Touristen, denen man den U-Bahn-Plan erklären müsse, treffe sie da jeden Tag. „Eigentlich habe ich schon als Fahrgastbetreuerin gearbeitet, bevor es den Beruf überhaupt gab.“