Besuch einer Praxis für Menschen ohne Papiere: Ärztin der Unsichtbaren

Vor zehn Jahren startete die Malteser Migranten Medizin ihre Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung. 2010 kamen 7.200 Patienten, viele von ihnen haben keine Papiere. Adelheid Franz baute das Projekt auf.

Viele Menschen ohne Papiere gehen erst dann zum Arzt, wenn es sich wirklich nicht mehr vermeiden lässt. Bild: dapd

Wer zehn Jahre weitgehend ehrenamtlich Menschen ohne Papiere und andere Bedürftige medizinisch behandelt, muss altruistisch veranlagt sein. So jemand braucht ein großes Herz oder eine Mission, könnte man meinen. Aber wenn man mit Adelheid Franz spricht, wischt die Ärztin all diese großen Worte mit einer schroffen Handbewegung zur Seite. "Altruismus? Nee. Für mich war das doch eine Riesenchance."

Dienstagmorgen, halb elf Uhr. Die Kranken sitzen im Wartezimmer dicht an dicht. Fünf vietnamesische Frauen im mittleren Alter stecken die Köpfe zusammen und unterhalten sich flüsternd. Eine dicke Frau ohne Papiere, die von der Elfenbeinküste stammt, leidet unter Bauchschmerzen. Ihr weites afrikanisches Gewand wirkt in den beige gestrichenen Räumen besonders bunt. Eine junge Verwandte begleitet sie, ihr Baby mit schwarzen Rastazöpfen zappelt auf dem Schoß herum. Auch im Flur herrscht Gedrängel: Eine blondierte Ungarin wandert auf hochhackigen Schuhen unruhig auf und ab. Eine schwangere Vietnamesin wartet an die Wand gelehnt auf die nächste Ultraschalluntersuchung.

Seit dem Frühjahr 2001 betreiben die Malteser, ein auf einen Ritterorden zurückgehender katholischer Hilfsdienst, in einem Nebengebäude des St.-Gertrauden-Krankenhauses in Wilmersdorf eine Praxis für Migranten, die nicht krankenversichert sind. Das Angebot hat sich offenbar herumgesprochen: Im ersten Jahr kamen 215 Patienten. Fünf Jahre später betreuten Adelheid Franz und ihre Kollegen schon 2.824 Kranke, 2010 stieg die Zahl auf 7.202.

7.202 Menschen wendeten sich 2010 an die Malteser Migranten Medizin. 54 Prozent der Patienten waren sogenannte Illegale, das heißt, sie verfügten nicht über eine Aufenthaltsgenehmigung.

Die Kranken kommen aus aller Welt: 41 Prozent der Patienten stammten 2010 aus Ländern der EU, 20 Prozent aus Afrika, 16 Prozent aus Asien, 6 Prozent aus Lateinamerika. Deutsche, die keine Krankenversicherung haben, machten 4 Prozent der Patienten aus.

Vor allem Frauen wenden sich an die Malteser Migranten Medizin: 66 Prozent der Patienten im Jahr 2010 waren weiblich. Die Ärzte betreuen auch Schwangere. Im vergangenen Jahr waren das 15 Prozent aller Patienten. 11 Prozent kamen wegen Erkrankungen der Zähne, 10 Prozent wegen gynäkologischer Beschwerden.

Für die Sprechstunde bezahlen die Patienten normalerweise nichts. Wenn aber Untersuchungen wie Bluttests oder ein gynäkologischer Abstrich anstehen, übernehmen sie das selbst - wenn sie das Geld aufbringen können. "Jeder beteiligt sich nach seinen Möglichkeiten", sagt Ärztin Adelheid Franz.

Die Malteser Migranten Medizin ist eine wichtige Anlaufstelle für Illegale in Berlin. Die Praxis befindet sich in der Aachener Straße 12 in Wilmersdorf. Öffnungszeiten siehe www.malteser-berlin.de. Derzeit werden dringend eine Gynäkologin und ein Zahnarzt oder eine Zahnärztin gesucht.

Neben den Maltesern kümmert sich auch das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe um Menschen ohne Papiere, die gesundheitlichen Probleme haben. Infos unter http://medibuero.de/.

Zu Beginn waren über 90 Prozent der Patienten Menschen, die in Deutschland eigentlich gar nicht leben dürften, weil sie keine Aufenthaltsgenehmigung haben. Die Praxis ist auch heute noch eine der wichtigsten Anlaufstellen für die sogenannten Illegalen in der Stadt. Doch ihr Anteil ging mit der Zeit zurück: Nur noch 54 Prozent der Behandelten hatten 2010 keinen Aufenthaltstitel. Das liegt an der EU-Osterweiterung, erklärt Franz: Inzwischen kommen viele EU-Bürger aus Polen, Ungarn und Rumänien. Sie dürfen sich legal in Deutschland aufhalten, haben aber nicht unbedingt eine Krankenversicherung.

Die Räumlichkeiten finanziert der Malteser Hilfsdienst, die meisten medizinischen Geräte wurden gespendet. Die Ärzte arbeiten ehrenamtlich, eine Sprechstundenhilfe ist als 400-Euro-Kraft angestellt. Adelheid Franz, die Allgemeinmedizinerin ist, behandelt an drei Tagen die Woche - und erhält nach eigenen Angaben dafür eine Aufwandsentschädigung. Die anderen zwei Tage arbeitet sie in einer Praxis nördlich von Berlin. Drei Gynäkologinnen im Ruhestand gehören inzwischen ebenso zum Team der Malteser wie zwei Kinderärztinnen, ein Orthopäde, eine Neurologin, eine Psychiaterin und eine Zahnärztin.

Der Ansturm der Patienten draußen im Flur bringt Adelheid Franz nicht aus der Ruhe. Sie sitzt hinter ihrem großen, braunen Schreibtisch, der mit seiner geschwungenen Front an ein Schiff erinnert. An der Ecke platzt der Lack ab, jemand hat die Stelle mit Tesafilm versucht zu kleben. In den Regalen hinter Franz reihen sich medizinische Nachschlagewerke an Bücher über Kirchenasyl. Der Boden ist mit Linoleum ausgelegt, ein Balkon geht vom Zimmer ab. Früher wohnten die Schwestern des Krankenhauses in dem 60er-Jahre-Gebäude.

Von diesem Raum aus steuert die Frau mit den dunklen Locken und der altmodisch runden Brille seit zehn Jahren die Praxis. Ständig kommt die Sprechstundenhilfe herein mit dringenden Fragen. "Nein, dieses Medikament bekommt der Patient nicht einfach so. Ich will ihn erst nochmal sehen", entscheidet Franz. "Ja, schick die Schwangere zur Blutabnahme ins Labor." Die Ärztin muss heute um die 50 Jahre alt sein, das genaue Alter will sie nicht verraten. "Jetzt wissen Sie, was meine Macke ist", sagt sie und lacht fröhlich.

Adelheid Franz lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und erzählt von den Anfängen. Die Idee der Malteser Migranten Medizin stammt nicht von ihr selbst. Ein Bekannter aus dem Medizinstudium an der Freien Universität arbeitete als Chefarzt in einem Krankenhaus und wurde immer wieder gebeten, kostenlos zu operieren. Er war außerdem ehrenamtlicher Leiter der Malteser in Berlin - und fragte Franz, ob sie sich vorstellen könne, im Namen des Hilfsdienstes Kranke ohne Versicherung zu behandeln.

Adelheid Franz, die sich zu der Zeit zuhause um die drei Kinder und ihre Alzheimer-kranke Mutter kümmerte, sagte zu. "Das war ein tolles Angebot", erklärt sie. Viele Ärzte träumten davon, sich mit einer eigenen Praxis zu verwirklichen. Mit der Malteser Migranten Medizin habe auch sie diese Möglichkeit bekommen - und noch dazu, ohne sich um Geldfragen groß kümmern zu müssen. Natürlich habe sie auch Mitgefühl mit den Patienten, sagt Franz. Sie habe sich schon immer für Menschen eingesetzt, die Hilfe brauchten. "Aber es macht auch einfach Spaß, so etwas aufzubauen."

Im Februar 2001 empfing sie hier im Behandlungsraum den ersten Patienten. Der Mann litt unter Zahnschmerzen, da konnte sie als Allgemeinmedizinerin wenig tun. Doch er hatte von einem Klingelschild den Namen und die Telefonnummer eines Zahnarztes abgeschrieben. Franz rief an und bat um eine kostenlose Behandlung. Das klappte. "Mit diesem Zahnarzt arbeiten wir heute noch zusammen", erzählt Franz zufrieden.

Sie wirkt wie eine pragmatische Frau ohne Hang zu großen Gefühlen. Doch wenn sie auf die letzten zehn Jahre blickt, kommt sie ins Schwärmen. "Der erste Tag lief so gut, das war eine tolle Fügung. Die Praxis stand von Beginn an unter einem guten Stern", sagt sie. Sie strahlt richtig. Zufall gibt es für die überzeugte Katholikin nicht. So sei das eben bei den Maltesern. "Wir fangen einfach mal an, vertrauen auf Gott und die Menschen, dann entwickelt sich das schon." Ihre eigenen Kinder hat sie auf das katholische Canisius-Kolleg geschickt.

Vielleicht braucht man für diesen Job auch Gottvertrauen. Die Behandlung von Menschen ohne Papiere ist oft schwieriger und vor allem zeitaufwendiger als die anderer Patienten, schon wegen sprachlicher Barrieren. Viele gehen erst spät und mit bereits fortgeschrittenen Erkrankungen zum Arzt, hat eine Studie der "Berlin School of Public Health" an der Charité ergeben, die 2010 veröffentlicht wurde. Dafür befragten die Autoren 42 Berliner Ärzte und 6 Vertreter von Hilfsorganisationen, unter ihnen Adelheid Franz. Das Spektrum der Diagnosen reicht demnach weit: Verschleppte Infektionskrankheiten treten oft auf, ebenso chronische Beschwerden. Auch Arbeitsverletzungen sind laut der Studie häufig.

Flüchtlingsorganisationen schätzen die Zahl der ohne Aufenthaltsgenehmigung in Berlin lebenden Menschen auf rund 100.000. Welche Wege all jene, die an diesem Dienstagmorgen im Flur stehen oder im Wartezimmer sitzen, nach Deutschland geführt haben, ist schwer zu erfahren. Viele schweigen lieber, als ihre Geschichte preiszugeben. Misstrauen gegenüber Fremden gehört für sie zum Überleben dazu.

Ein zweijähriger Junge, dessen Mutter aus Kamerun stammt, weint laut. Die junge Frau geht mit ihm im Gang auf und ab, sie trägt ein zweites Baby auf dem Arm. Es hilft nicht. Der Junge schreit und schreit. Irgendwann öffnet sich die Tür des Behandlungsraums. Franz eilt auf den Kleinen zu. "Du bist jetzt mal still. Es sind auch andere Menschen hier", ermahnt sie ihn. Er drückt sich weinend die Mutter.

Adelheid Franz kann streng sein. Sie entspricht nicht dem Bild einer karitativ tätigen Frau, die ständig alle freundlich anlächelt. Aus ihrer Sicht gehört zur Hilfsbereitschaft nicht zwingend eine ausgeprägte Herzlichkeit. Vielleicht ist es gerade auch diese bestimmte, direkte Art, die Franz' Patienten das Gefühl gibt, gut bei ihr aufgehoben zu sein.

Kurz darauf kommt die Mutter mit ihren beiden Kindern an die Reihe. Sie klagt, alle drei litten unter Durchfall und Übelkeit. Franz, wieder hinter ihrem Schreibtisch, erklärt: "Das ist ein Virus, den haben im Moment alle." Es sei nicht schlimm, wenn die Kinder nicht essen wollten. Vor allem trinken sollten die Kleinen aber. "Dann ist es ist in Ordnung." Die besorgte Mutter nickt und wirkt bald ruhiger. Ein unkomplizierter Fall: Nach fünf Minuten kann sie mit ihren Kindern wieder gehen.

Adelheid Franz hat keine engeren Beziehungen zu ihren Patienten als andere Ärzte. Sie will nur so viel Nähe, wie es die Arbeit verlangt, sagt sie. "Ich halte einen professionellen Abstand." Hinzu kommt, dass sich Franz keine Gesichter merken kann. Sie erkennt die Menschen, die zu ihr kommen, oft nicht wieder. Eine Eigenschaft, die bei der Arbeit mit Migranten ohne Papiere nicht unbedingt von Nachteil ist.

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