„Die meisten sind doch schon da“

FREIZÜGIGKEIT Ab kommender Woche können EU-Bürger aus dem Osten hier arbeiten. Kein Grund zur Panik, sagen die Experten

PROTOKOLLE UWE RADA

Am 1. Mai fallen die Beschränkungen, die Ost- und Mitteleuropäer der Europäischen Union (EU) bislang vom deutschen Arbeitsmarkt ferngehalten haben. Die taz hat Politiker, Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler und eine Betroffene gefragt, was die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Region Berlin-Brandenburg bedeutet.

„Ich glaube nicht, dass mit dem Beginn der Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai massenhaft Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa nach Berlin kommen werden. Die meisten, die kommen wollten, sind schon da. Es gab auch bisher schon Möglichkeiten, legal zu kommen: Ausnahmegenehmigungen, Kontingente.

Eine große Grauzone gab und gibt es im Pflegebereich. Teilweise dubiose Vermittlungsfirmen vermitteln Pflegekräfte, die dann rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen, und das für 800 bis 900 Euro im Monat. Die gleiche Summe kassieren dann noch einmal die Vermittler. Da gab es für die Beschäftigten bislang kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. Da muss sich einiges ändern.

Das Gleiche gilt für das Thema Lohndumping. Wer bislang illegal auf dem Bau gearbeitet hat, hatte kaum Möglichkeiten, den Lohn einzuklagen, der ihm zusteht. Das Gleiche gilt für Leiharbeit. Unser Grundsatz dabei ist: Wir brauchen einen Mindestlohn, und der gilt für alle.

Damit wir das durchsetzen können, haben wir mit dem DGB eine Beratungsstelle eingerichtet. Da werden die Arbeitnehmer aus den Beitrittsländern über ihre Rechte aufgeklärt.

Das betrifft auch den Fachkräftemangel. Der ist in Berlin zwar kein so großes Problem wie in den Flächenländern in Ostdeutschland, mit der demografischen Entwicklung kommt aber auch auf uns das Thema zu. Da kann Zuwanderung natürlich hilfreich sein. Allerdings sollte man zunächst auf die eigenen Kräfte zurückgreifen: Viele Frauen wollen wieder in den Job, und auch viele Migranten, die bereits hier sind, können und müssen qualifiziert werden.“

Harald Wolf (Linke), Wirtschaftssenator

„Mit der Berliner Wirtschaft geht es bergauf, insofern ist Berlin attraktiv. In anderen Regionen können aber höhere Einkommen erzielt werden, sodass schon in der Vergangenheit die Migration weitgehend an Berlin vorbeiging: nach Süddeutschland oder Hamburg.

Dazu kommt, dass das Potenzial der Migration auch in Polen nicht unerschöpflich ist. Wer sich auf den Weg gemacht hat, ist aufgrund der Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes an Deutschland vorbeigewandert – nach Großbritannien oder Irland. Das kann man auch den Zahlen entnehmen. Nach dem EU-Beitritt gab es bis 2006 einen Anstieg aus den acht Beitrittsländern, danach gingen die Zahlen wieder zurück. Der Anteil der Polen betrug bis 2006 drei Viertel, jetzt sind es zwei Drittel. Zuletzt hatten wir keine Wanderungsgewinne mehr mit Bürgern aus diesen Ländern. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Tschechen fast überhaupt nicht wandern.

Die Branchen, die es betreffen könnte, sind Dienstleistungen wie etwa Gebäudereiniger. Ab 1. Mai wird es ja nicht nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit geben. Es werden auch die letzten Restriktionen bei der Dienstleistungsfreizügigkeit fallen. Jedes Unternehmen aus den EU-8 kann dann ihre Dienstleistungen in Deutschland anbieten. Allerdings oft zu den hier geltenden Mindestlöhnen. Und da sind die Lücken weitgehend geschlossen, nachdem nun auch noch die Zeitarbeitsbranche Mindestlöhne hat. Die Niederlassungsfreiheit war nicht beschränkt. Das hatte Folgen vor allem für die Branchen, in denen es keine Meisterpflicht gibt. Inzwischen wird jeder vierte Fliesenlegerbetrieb von einem osteuropäischen Staatsbürger geführt.“

Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW)

„Dass der Arbeitsmarkt jetzt auf ist, ist gut für die Polen, denn so können sie einen Job finden und ein Leben bestreiten – bei uns gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit. Es ist aber schlecht für die Deutschen, weil es dann weniger Arbeitsplätze gibt. Natürlich gibt es das Sprachproblem, man muss gut Deutsch können, um sich zurechtzufinden und keinen Schaden anzustellen. Bei den Regeln für den Arbeitsmarktzugang kenne ich mich nicht aus, aber ich würde nicht bei einer deutschen Firma arbeiten wollen, weil ich ständig hier sein müsste, und das bedeutet eine Wohnung suchen, den Unterhalt bezahlen – zu deutschen Preisen – und weit weg von der Familie zu leben. Bei einer polnischen Firma, die mich hierher schickt, kann ich sagen, wann ich eingesetzt werden kann.“

Jolanta, eine polnische Pflegekraft. Sie pendelt zwischen Berlin und Polen

„Dass die Menschen aus acht neuen EU-Ländern nun auch in Deutschland arbeiten dürfen, ist ihr gutes Recht. Es ist aber zu befürchten, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Wir fordern deshalb einen Mindestlohn, der verhindert, dass es auf dem Arbeitsmarkt ein weiteres Lohndumping gibt. Darüber hinaus brauchen Dauerarbeitslose vermehrt Angebote für Fortbildung, um mit den Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern konkurrieren zu können. Wenn beides passiert, dann können Migranten aufgrund ihrer Sprachkenntnisse sogar einen Vorteil gegenüber den neuen Arbeitskräften haben.“

Hilmi Kaya Turan, Sprecher des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg

„Im Handwerk ist der Fachkräftemangel bereits betriebliche Realität. Die Frühjahrsumfrage der Handwerkskammer Berlin ergab, dass jeder vierte Berliner Handwerksbetrieb sofort oder in den kommenden Monaten Fachkräfte einstellen will. Wir bezweifeln allerdings, dass mit der Öffnung unseres Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus Osteuropa das Problem des Fachkräftemangels gelöst werden kann. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit werden in den kommenden vier Jahren etwa 34.000 Menschen in den nächsten vier Jahren zusätzlich nach Berlin kommen. Pro Jahr würde der gesamte Berliner Arbeitsmarkt insofern um etwa 8.500 zusätzliche potenzielle Arbeitnehmer wachsen. Mit dieser Größenordnung können wir wohl kaum eine Deckung des Fachkräftebedarfs erreichen. Auch zu flächendeckenden Wettbewerbsverzerrungen wird es – wenn diese Zahlen tatsächlich eintreffen – eher nicht kommen.

Wichtig ist jedoch, die Umgehung von allgemein verbindlichen Mindestlöhnen, etwa durch neu entstehende Zeitarbeitsangebote, auch künftig zu verhindern. Hierbei sollte es stets auf die im Entleihbetrieb tatsächlich ausgeübte Tätigkeit ankommen. Und auch nach dem 1. Mai geht es darum, die Einhaltung der Spielregeln am Arbeitsmarkt wirksam zu überprüfen.“

Jürgen Wittke, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Berlin