BERLIN ZERFÄLLT IN STÄMME – NICHT MEHR BLUTS-, SONDERN WAHLVERWANDTSCHAFTLICH ORGANISIERTE
: Modischer postmoderner Tribalismus

Neulich wurde ich Zeuge einer Tribes-Evolution im Bus M29

VON HELMUT HÖGE

Nur Stämme werden überleben!“ So lautete einmal die Prophezeiung eines alten Indianers, der den „Sandkörnerhaufen“, wie Mao Tse-tung die vorrevolutionäre Gesellschaft nannte, keine Chance gab. Nun haben wir lauter Stämme, wenn ich das richtig sehe, aber auch sie haben keine Chance. Sie treten erst als eine Clique und dann als eine Szene auf, die jedoch einer Konjunktur oder Mode unterworfen ist – und damit eine zeitlich begrenzte Lebensdauer hat.

Da wären etwa die Sonnenstudiofrauen zu nennen, die ganzjährig braungebrannt und tiefgeschminkt rumlaufen. Im neuen Aufbau-Haus am Moritzplatz läuft gerade eine Fotoausstellung mit Sonnenstudiofrauengesichtern. Die Ähnlichkeit mit Stammesangehörigen – seien sie aus Brasilien oder Afrika – ist frappierend. Der Spiegel schrieb dazu: „Letztlich spiegelt die Popularität von Körperverzierungen einen Trend zum Rückzug in den eigenen Leib wider. Wo früher die Individualität durch materielle Güter oder Kleidung ausgedrückt wurde, spielt heute das eigene Fleisch eine immer größere Rolle.“ Das US-Journal of mental environment, Adbusters, sagt es etwas dumpfer so: „After Gods, after Revolution, after Financial Markets, the body is becoming our Truth System.“

Ebenfalls bis in die Aura und sogar ins Körperinnere geht der Stamm der Hobby-Buddhisten. In Berlin trifft er sich unter anderem in dem 100 Jahre alten buddhistischen Kloster in Frohnau, wo es längst zu einer Osmose zwischen den Meditierenden aus Berlin und aus Südostasien gekommen ist. Dann die Planespotter, Flugzeugnarren und Piloten mit eigenen Treffpunkten, Cocktails und Vorlieben.

Wir leben in restaurativen Zeiten, die Biologie ist – als Genetik – Leitwissenschaft. Im Unterschied zum nationalistischen 20. Jahrhundert findet die Eugenik nun aber auf privater Basis statt. Da verwundert es nicht, dass alle neuen Stämme am Aussehen ihrer Mitglieder zu identifizieren sind – und sich immer ähnlicher werden. Auf den ersten Blick könnte man etwa die Latex-, Botox-Szene mit Motorrad-Rockern verwechseln, deren Berliner Zentrum der Avus-Imbiss „Spinnerbrücke“ ist. Der dortige „Bike-Tribe“ hat schon einige Moden und Jahrzehnte überlebt.

Das ganze Stammesgerede kommt natürlich aus Amerika – und steht für die quasi nach innen gedrehte Kolonialwissenschaft „Ethnologie“. Im Grunde sind auch fast alle Religionsgemeinschaften mit Zuwächsen postmoderne Stämme – insofern sie sich ihren Glauben neu „erarbeiten“ müssen. Aber auch Neonazis und Antifas neigen zum modisch attributierten Tribalismus. Und die Bollywood-Fans, die Lesebühnen, die Kulturwissenschaftler, die Clubs …

Kurzum: Berlin zerfällt in Stämme – nicht mehr bluts-, sondern wahlverwandtschaftlich organisierte. Neulich wurde ich Zeuge einer Tribes-Evolution, eines neuen Stammes: wild und autonom gestylte Frauen mit Mutationshintergrund um die 45, die morgens um halb acht endlos im 29er-Bus telefonieren – mit einer ganz piepsigen Stimme. Als ich meiner Freundin Julia in Pankow davon erzählte, meinte sie: „In der U2 gibt es dieses Phänomen seit Juni auch – morgens, ungefähr um dieselbe Zeit. Is ja irre!“ Ob solche Stämme so kurzlebig wie Flashmobs oder Facebook-Partys sind oder ob sie sich im allgemeinen Restaurationsklima stabilisieren oder sogar Boden machen, bleibt abzuwarten. In den USA gibt es bereits echte Indianerstämme, die sich – dem Stammestrend folgend – in Als-ob-Indianerstämme umgewandelt haben.